Im Zweifel: Reden
Ein Kommentar zur documenta fifteen
Die documenta fifteen legt wie keine andere den Finger in eine Wunde, die auch bei uns in Deutschland noch klafft, wenn es darum geht, einander zu verstehen. Eine Betrachtung zwischen Skandal und Ernte.
„Und nach dem soundsowievielten Fall von eindeutigem Antisemitismus sowie der Weigerung der Leitung, die Kunstschau genauer zu untersuchen, kann es nur noch eine sinnhafte Konsequenz geben: Macht die Documenta fifteen, die wohl antisemitischste Kunstschau auf deutschem Boden seit 1945, zu – sofort“*, so der letzte Satz in Sascha Lobos aktueller Spiegel-Kolumne. Sascha Lobo ist ein kluger Mann, seine Kolumnen zeugen in der Regel von einer intensiven Auseinandersetzung mit den Themen, über die er schreibt. Und doch ist diese Kolumne sinnbildhaft für Auseinandersetzung mit der documenta fifteen, denn Lobo verbeißt sich wie viele andere vor ihm in einem „Skandal“, der gar keiner hätte werden müssen. Das Problem? Mangelnde Kommunikation und die fehlende Bereitschaft, sich mit der eigenen Position auseinanderzusetzen.
Ich glaube nicht, dass Lobo vor Ort war, dass er sich die Ausstellung angesehen hat. Aus seinem Text geht auch nicht hervor, dass er mit einem Mitglied des Kurator:innenkollektivs ruangrupa gesprochen hat. Nicht nur er, auch viele andere Journalist:innen haben die documenta fifteen bereits in dem Moment für gescheitert erklärt, als im Januar die ersten Antisemitismusvorwürfe auftauchten. Viele haben im Anschluss nur wiederholt, was andere davor geschrieben hatten, und damit leider das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Denn die documenta fifteen ist so viel mehr als eine Aneinanderreihung von Antisemitismusfällen. Eigentlich ist sie ein Glücksfall, denn sie konfrontiert uns mit der eigenen Doppelmoral. Und fährt ein Konzept, das deutlich mehr wert ist, als uns deutsche Feuilletons suggerieren.
Es ist kompliziert
Ob die Debatte um Winnetou oder die documenta – wir leben in einer angespannten Zeit, die uns oft genug mit ihren Herausforderungen überfordert. Die Folge ist, dass es Extrempositionen leichter haben, zu uns durchzudringen als differenzierte Gedankengänge und Betrachtungen. Viele tun sich schwer damit, Ambivalenzen auszuhalten, sie suchen eine Klarheit, die es nun mal selten gibt. Würdest du die Bücher von Kant aus den Regalen verdammen? Warum nicht? Kant war Antisemit und Rassist. Dass wir es nicht machen, liegt daran, dass es eben nicht so eindeutig ist und dass sich das Problem nicht dadurch aus der Welt schaffen lässt, dass die Bücher von Kant aus den Regalen genommen werden.
Viel wichtiger wäre eine Einordnung und die hätte es von Beginn an auch in Kassel geben müssen. Martin Heller, Mitgründer der Non-Profit-Plattform The Artists und Kooperationspartner der documenta formuliert es so: „Ich glaube, die documenta bietet so viele neue Ansätze und so viel Gelegenheiten, über bestimmte Dinge nachzudenken, dass das einigen Leuten wirklich gegen den Strich geht. Das kratzt an ihren gefestigten, europäischen, tradierten Deutungshoheiten. (…) Und ja, natürlich ist es problematisch. Aber zum Beispiel die letzten Bilder, die einem antisemitischen Stereotyp entsprechen sollten, zeigten am Ende muslimische Minenbesitzer, die dort karikiert wurden.“
Heller fährt fort: „Wenn man diese Bilder mit den Mohammed-Karikaturen vergleicht, dann sieht man, dass auf beiden Seiten eine sehr ähnliche Bildsprache benutzt wird. Die Arbeiten von Taring Padi sind zugespitzt, das ist gar keine Frage. Das sind riesige Bildwerke, die von StereotypenStereotype sind feste Vorstellungen von Eigenschaften oder Verhaltensweisen, die Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe zugeschrieben werden. leben. So steht das Schwein in Indonesien schon immer als Symbol für Gewalt und Terrorherrschaft. Und Yazan Khalili von „The Question of Funding“ hat in einem Interview gesagt: ‚Der Kampf gegen Antisemitismus und die Lösung der Palästinenserfrage gehören zusammen.‘ Und das ist die Aufgabe. Das muss man zusammenführen. Und wer das nicht differenzieren will, weil er etwas anderes überdecken möchte, was ihm oder ihr nicht gefällt, der hat sich damit selbst gebrandmarkt. Ich kann das wirklich nicht mehr ertragen. Die Interessenten für die größeren Arbeiten von Taring Padi kamen aus Israel. Das war ein Asien-Wissenschaftler, der in Indonesien gearbeitet hat. Der hat gelacht über die angeblichen Skandale. Da haben wir vielleicht selber noch ungelöste Geschichten.“
Doppelmoral
Ja, die Doppelmoral kultivieren wir in der Tat, wie ein Blick in die Lutherstadt Wittenberg zeigt. Lassen wir Luther selbst mal beiseite, der als Antisemit, der er zweifelsfrei war, 2017 im „Luther-Jahr“ gefeiert wurde. Ein Skandal? Mitnichten. Ebenso die antisemitische Schmähplastik an der Wittenberger Stadtkirche. Ein Skandal? Mitnichten. Laut Urteil vom Bundesgerichtshof darf das als „Judensau“ bekannt gewordene Relief hängen bleiben, weil eine Bodenplatte, die die Plastik erklärend einordnet, den „rechtsverletzenden Zustand“ beseitigt hat. Die Reihe ließe sich fortsetzen und mit jedem weiteren Beispiel muss die Frage erlaubt sein, ob es unser Blick auf den globalen Süden ist, der uns so erbarmungslos skandalisieren lässt, wo wir doch besser daran täten, zu kontextualisieren.
Dazu Martin Heller: „Die Übersprungshandlung ist, man haut auf die Leute drauf. Aus der ersten FAZ-Redaktionssitzung zur documenta, als bekannt wurde, dass ruangrupa ernannt wurde, drang nach außen, dass jemand sagte: ‚Das ist doch ein Witz!‘ und ‚Was sind denn das für Leute und was sind das für Namen, die sind doch viel zu kompliziert, die kann ich mir nicht merken. Und wie sehen die schon aus.‘ Da muss ich sagen, dass wir uns damit im internationalen Ausstellungsbetrieb einfach wegschießen. Es sagen mir ganz viele: ‚Warum sollen wir noch nach Deutschland kommen? Hier hört ja keiner zu. Ihr seid so ‚full of yourself‘. Und für die Zukunft, in der wir vor Problemen stehen, die wir nur global lösen können, sind wir wirklich abgehängt. Und zurück zur documenta: Über Yazan gab es unglaublich viele Artikel, aber nur zwei Personen haben wirklich versucht, mit ihm zu sprechen. Der Rest war einfach abgeschrieben. Da fragt man sich zurecht, was das eigentlich soll.“
Interessanterweise geschieht jetzt, da die documenta auf ihr Ende zusteuert, etwas sehr Interessantes. Plötzlich erweitern einige doch ihren Blick, im Tagesspiegel kommen sogar zwei Künstler von ruangrupa zu Wort. So antwortet Farid Rakun auf die Frage nach der überklebten Kopfbedeckung bei einer Figur und ob sie sich missverstanden fühlen: „Es ist niemals einfach Schwarz oder Weiß. Es mag so wirken, als machten wir immer das Falsche, aber es gibt auch kulturelle Missverständnisse. In Deutschland kennen viele das traditionelle indonesische Puppentheater nicht, aus dem die Figur stammt. Wir lernen ebenfalls auf der Documenta fifteen die ganze Zeit hinzu. Das ist gerade ihre Qualität: dass sie keine abgeschlossene Ausstellung ist, sondern sich überall noch etwas verändern kann.“ Er trifft damit einen guten Punkt, der viel zu wenig beachtet wird: Viele gehen als Konsumenten auf die documenta und erwarten eine sich selbsterklärende Ausstellung. Aber das ist die diesjährige documenta keinesfalls. Und das ist der Punkt, der viele überfordert. Allein sich mit dem Konzept, dem lumbung-Topf, der Preisgestaltung, der Verteilung der Gelder auseinanderzusetzen, fällt einem Publikum, das es gewohnt ist, Kunstwerte nach Shareholder-Value-Kriterien zu messen, sicher nicht leicht.
Blick in die Zukunft
Aber genau da liegt der Schatz dieser documenta, der ja vielleicht doch noch gehoben wird, wenn beide Seiten aufeinander zugehen. Den Bundeskanzler als „faschistisches Schwein“ zu bezeichnen ist dabei ebenso wenig hilfreich, wie das sofortige Ende der documenta fifteen oder den Stopp der Bundesförderung zu fordern. Denn selbst wenn das passieren würde, die Arbeit der Kollektive ginge weiter. Nicht in Kassel, sondern dort, wohin die Kollektive zurückkehren – in ihren Heimatländern. Vielleicht gibt es dann in Indonesien auch bald ein Wort für das, was wir hier antisemitisches Motiv nennen. Denn auch das gehört zum Konzept: die Ernte. Oder wie Heller sagt: „Wir machen einen harvest.“ Hellers Idee ist, weiterzumachen mit der lumbung-gallery. „Wir haben ja einen Verein, da gibt es keinen Shareholder ValueAls Shareholder Value (deutsch Aktionärswert) wird (laut Wikipedia) in der Ökonomie der Marktwert des Eigenkapitals von Unternehmen bezeichnet. – jeder kann uns kopieren. Wir waren die Ersten, wir werden zusammenfassen, wie man das aufbaut, wie unsere Erfahrungen sind, die werden wir für kleines Geld in die Welt geben oder auch online stellen, sodass sich jeder bedienen kann. Wir sind von einigen Instituten, Wirtschaftseinrichtungen und Universitäten eingeladen worden. Also ich glaube, das wird so sein wie mit dem sprichwörtlichen Schmetterlingsflügel, der etwas auslöst, was weitergeht.“
Raum also für Transformation, die nicht möglich wäre, wenn man abbricht.
*Sascha Lobo, „Die Documenta-Leitung kann beim besten Willen keinen Judenhass erkennen“ Spiegel Online 24.08.2022
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