#Uncivilized & stolz drauf!
Über Migration, Geschwafel und Eurozentrismus.
Es ist noch nicht allzu lange her, da haben wir in diesem Land „die Mutter aller Probleme“ (Horst Seehofer, 2018) gesucht und gefunden. Was für ein befreiendes Gefühl, eine ganze Republik immer nur durch die eigene Brille zu sehen. Alles fühlt sich so leicht an. Für alles gibt es (m)eine Erklärung.
Vor allem aber gibt es keinen Grund zur Sorge: nicht für uns. Denn wenn die Erde wirklich eine Scheibe sein sollte, dann sind wir diejenigen, die es sich in der Mitte gemütlich gemacht haben und keine Angst davor haben müssen, an den Rändern runterzufallen. Wir sind Dichter und Denker. Wir haben ganze Kontinente (wieder)entdeckt. Wir sind civilized. Wo also ist das Problem?
»Diesmal ist die Mutter des Problems nicht die Migration an sich. Diesmal sind es nur die „unzivilisierten“ Migrant:innen.«
Ich kann dir nicht genau sagen, was ich gefühlt habe, als ich in der Berichterstattung zum Ukraine-Krieg von „unzivilisierten Menschen“ gelesen habe und damit jene Menschen gemeint waren, die 2015 vor Krieg aus Syrien flüchteten. Noch bevor wir den Menschen in der Ukraine geholfen haben, haben wir (schon wieder) den Drang verspürt, erst einmal die ganze Welt zu erklären. Nach der Mutter des Problems zu suchen. Und wir haben sie (schon wieder) gefunden: Diesmal ist es nicht die Migration an sich. Diesmal sind es nur die „unzivilisierten“ Migrant:innen. Schon wieder einen Schritt weiter. Schon wieder fühlt es sich so befreiend an. Schon wieder waren wir es, die es geschafft haben, die Welt zu erklären. Wo waren wir nochmal stehen geblieben? Ach ja, Menschen in der Ukraine zu helfen!
Wir haben sichere Fluchtrouten geschaffen. Wir haben die Kosten für Bahntickets übernommen. Wir haben Abschlüsse anerkannt, Studienzugänge geschaffen und Arbeitserlaubnisse ausgestellt. Wir haben den Anspruch auf Sozialleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz kurzerhand auf einen nach dem Sozialgesetzbuch geupgradet und damit hilfsbedürftige Menschen aus der Ukraine in allen Punkten uns Deutschen gleichgestellt. Wir haben Menschen syrischer Herkunft aus den Deutschkursen – und Menschen afghanischer Herkunft aus den städtischen Unterkünften – geworfen Und wir haben den Menschen aus der Ukraine Deutschkurse und städtische Unterkünfte angeboten. Ob wir nach der heldenhaften Aufnahme eben dieser syrischen und afghanischen Geflüchteten nicht schon den nächsten Friedensnobelpreis verdient hätten?
»Wir können nicht die einen Taxi fahren – und die anderen studieren lassen. Punkt.«
Es gibt Fortschritte. Es gibt Rückschritte. Und es gibt Dinge, die sind und bleiben irgendwie beides. Viele der Angebote, die wir jenen Menschen aus der Ukraine in kürzester Zeit angeboten haben, sind zutiefst vorbildlich. Sie sind aber auch ein Schlag ins Gesicht iranischer, syrischer, afghanischer, somalischer und vieler anderer Geflüchtete. Denn unser Handeln verdeutlicht vor allem eines: Dass wir können – wenn wir wollen. Wer es schafft, nicht vorhandene Abschlüsse anzuerkennen, der sollte es auch schaffen, vorhandene Abschlüsse iranischer Ingenieur:innen, syrischer Architekt:innen und afghanischer Mediziner:innen anzuerkennen. Wie erklären wir unser Handeln all jenen, die seit über 30 Jahren in Deutschland leben und Taxi fahren, weil wir ihre Universitätsabschlüsse nicht anerkannt haben? Was antworten wir all jenen, die bis heute ihre Abschiebung befürchten müssen? Wir können nicht die einen Taxi fahren – und die anderen studieren lassen. Punkt.
Wenn „zivilisiert sein“ heißt, dass ich meine Mitmenschen in zwei Klassen aufteile, den einen Hilfsangebote und den anderen Steine mit auf den Weg gebe – wenn „zivilisiert sein“ heißt, dass mein Mitgefühl von der Hautfarbe, Religion, Staatsangehörigkeit oder geographischen Distanz abhängt, dann bin ich unzivilisiert und stolz drauf!
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