Jenseits vom Ermittlungsstand

Wie vorschnelle Debatten auf Abwege führen

Wenn etwas passiert, das die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zieht, dauert es nicht lange, bis es diverse Statements von Politiker:innen dazu gibt. Das ist nicht ungewöhnlich. Gibt es aber für solche Äußerungen keine ausreichende Faktengrundlage, kann dies die komplette Debatte verfälschen.

Debatten mit neuer Dynamik

Nach den Angriffen auf Einsatzkräfte in der Silvesternacht dauerte es nur wenige Stunden, bis das Thema in den Medien bestimmend war. Schnell äußerten zahlreiche Politiker:innen Unverständnis, Fassungslosigkeit, Wut. So weit, so verständlich. Doch schnell mehrten sich Stimmen, die für sich in Anspruch nahmen, das „echte Problem“ zu benennen. So erklärte beispielsweise CDU-Politiker Jens Spahn am 2. Januar, dass es im Kern um ungeregelte Migration, gescheiterte Integration und fehlenden Respekt vor dem Staat gehe. Zu diesem Zeitpunkt gab es über die potentiellen Täter:innen noch keine belastbaren Informationen. Viele Politiker:innen äußerten ähnliche Behauptungen. Diese Aussagen suggerierten, dass es bereits einen abgeschlossenen Erkenntnisprozess gebe, auf den man nun reagieren könne und müsse. Die Debatte bewegte sich dabei weg von den Fragen, wieso es in aller Regelmäßigkeit zu Krawallen an Silvester kommt und wie Einsatzkräfte künftig besser geschützt werden können. Stattdessen wird über Migration gesprochen und damit ein großer Teil der deutschen Bevölkerung unter einen unverschämten Generalverdacht gestellt. Daneben geht es vor allem um Verschärfungen des Strafrechts und „möglichst harte Strafen für die Täter“. Auch diese Forderungen haben es in sich.

Dauerbrenner Strafschärfung

Wann immer Delikte das öffentliche Interesse erregen, folgen Forderungen nach Strafschärfungen. Diskutiert wird gerade vor allem, ob für Personen, die Einsatzkräfte in einen Hinterhalt locken und dann angreifen, die Mindeststrafe von sechs Monaten auf ein Jahr erhöht werden soll. Die Idee dahinter ist verständlich und natürlich auch nicht verwerflich. Im Kontext der Debatte klingt es aber häufig so, als wären schärfere Strafen etwas, das Vorkommnisse wie die in der Silvesternacht verhindern könnte. Dabei ist längst bekannt, dass Strafschärfungen Kriminalität nicht verhindern.

Strafen müssen verhältnismäßig und nicht „möglichst hart“ sein

Und dann ist da noch die fast schon reflexhafte Forderung nach „möglichst harten Strafen“. Gerichte bewerten, ob eine Person rechtswidrig alle Merkmale einer Strafnorm verwirklicht und dabei schuldhaft gehandelt hat. Ist dies der Fall, wird das Gericht den:die Angeklagte:n verurteilen und eine Strafe aussprechen. Diese ist aber nicht „möglichst hart“, sondern verhältnismäßig aufgrund der Gesamtumstände der Tat. Es stellt sich die Frage, was eigentlich das Ziel einer solchen Forderung sein soll. Sollen Gerichte aufgefordert werden, die betreffenden Taten anders als sonst abzuurteilen? Oder glauben diejenigen, die diese Forderung formulieren, dass die Gerichte ihrer Aufgabe, also dem Aussprechen angemessener Strafen, nicht nachkommen? Wohlwollender kann man die Forderung wohl so lesen, dass damit zum Ausdruck gebracht werden soll, wie verwerflich die Taten sind. Nur ist das, was gemeint ist, nicht immer das, was ankommt. Ohnehin sollte nicht vernachlässigt werden, dass der Druck, der dadurch ausgeübt wird, Richter:innen, Staatsanwält:innen und Angeklagte beeinflussen kann. Insoweit sollten Politker:innen sich mit solchen Forderungen im medialen Fokus zurückhalten. 

Völlig losgelöst von den Fakten

Eins haben jedenfalls die Diskussionen um Migration, Strafschärfungen und „möglichst harte Strafen“ gemein. Die Fakten, auf derer Grundlage diese Debatten geführt werden, verfestigten sich erst in ihrem Verlauf. Das wiederum kann zu einem echten Problem werden. So hat beispielsweise die Berliner Polizei durch ihre Kommunikation suggeriert, es wären 145 Verdächtige wegen Angriffen auf Einsatzkräfte festgenommen worden, obwohl es in Wirklichkeit 38 waren, während der Rest wegen ganz anderer Delikte festgenommen wurde. An den Taten, um die sich die Debatte über Silvester drehte, waren in Berlin also über 70% weniger Personen beteiligt als zunächst angenommen. Die Zahl, die zu Beginn einer solchen Debatte im Raum steht, wirft ein anderes Licht auf die vorgebrachten Argumente und Lösungsansätze. Allzu frühe Äußerungen zu Sachverhalten, die noch nicht vollständig aufgeklärt sind, bergen die Gefahr, dass sich die geäußerten Forderungen von den Fakten entkoppeln, die erst nach und nach ermittelt werden. Im schlimmsten Fall sorgt das, wie in Berlin, dafür, dass Forderungen für den Wahlkampf auf falsche Annahmen gestützt werden. Mit diesen Hinweisen sollen die Vorfälle nicht relativiert oder verharmlost werden. Allerdings ist es für eine Debatte wichtig, dass auf korrekte Zahlen zurückgegriffen wird. Die 145 wird nämlich bei vielen Leuten hängen bleiben, ebenso wie die angebliche Staatsangehörigkeit der Verdächtigen.

Minister:innen sollten besonders zurückhaltend sein

Eine neue Ebene erreicht dieses Problem, wenn sich Minister:innen in die präfaktische Debatte einschalten. Jüngst ist hierfür Innenministerin Nancy Faeser ein Beispiel, die, noch bevor bekannt wurde, wie viele Übergriffe es auf Rettungskräfte in der Silvesternacht gegeben hatte, verkündete, wer die Täter:innen waren. In einem anderen Kontext hat sich aber auch Marco Buschmann mit Aussagen zu noch nicht aufgeklärten Sachverhalten hervorgetan. Im Zuge einer Protestaktion der Gruppe „Letzte Generation“ war ein Stau entstanden, in dem auch ein Rettungsfahrzeug steckte, das zu einer Radfahrerin gelangen sollte, die bei einem Abbiegeunfall schwer verletzt worden war und später verstarb. Buschmann erklärte, dass es hier möglicherweise um fahrlässige Körperverletzung ginge – und schob damit die Verantwortung für die Verletzungen der Frau denjenigen zu, die sich an die Straße geklebt hatten. Später stellte sich heraus, dass das Rettungsfahrzeug ohnehin nicht eingesetzt worden wäre. Doch da war der Zug bereits abgefahren: Medial wurde laut darüber diskutiert, ob die Schuld für den Tod der Radfahrerin bei der „Letzten Generation“ liegt. Buschmann hat in dieser Debatte weiter Öl ins Feuer gegossen, anstatt Ermittlungen abzuwarten und dann (angemessen) zu reagieren. Im weiteren Verlauf von Aktionen der „Letzten Generation“ forderte Buschmann dann ebenfalls „scharfe Strafen“ von den Gerichten, andernfalls würde er in seiner Funktion als Minister das Strafrecht ändern. Aus der Feder eines Justizministers kann das schon mal als klarer Auftrag missverstanden werden, der öffentliche Druck auf Gerichte dürfte mit solchen Äußerungen jedenfalls steigen. Im Lichte der Gewaltenteilung wäre auch hier mehr Zurückhaltung wünschenswert.

Ein bisschen mehr Ruhe

Es ist nichts Neues, dass aus Vorfällen, die nicht aufgeklärt sind, voreilig Schlüsse gezogen werden. Das Phänomen ist vor allem von Brandstiftern am rechten Rand bekannt, die unsichere Faktenlagen nutzen, um sie in ihre eigenen Narrative einzuweben. Mit dieser Hysterie arbeiten aber auch Politiker:innen auf Minister:innenebene. Das verschärft die Problematik noch einmal deutlich. So kommt man letztlich zu einer Binsenweisheit: Bis zur abschließenden Ermittlung der Faktengrundlage ist bei Äußerungen über einen Sachverhalt Vorsicht geboten. Diese Vorsicht lassen viele Politiker:innen zu selten walten.

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Johannes Maurer studiert Rechtswissenschaft. Er beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit Politik und war viele Jahre in der akademischen und studentischen Selbstverwaltung engagiert. Momentan setzt er sich im Rahmen des Podcasts „Über Rechte reden“ vor allem mit dem Thema Rechtsextremismus auseinander.

Foto: © Jana Lipinski

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