Seenotrettungssituation, Menschen im Wasser, gekennteretes Boot

Auf der Brücke unerwünscht

Wenn Seenotrettung plötzlich ein No-Go im Lebenslauf eines Kapitäns ist

Kai Kaltegärtner ist Kapitän. Auf See ist er trotzdem nicht. Der Grund? Nachdem er für Sea Watch und Jugend Rettet auf Mission war, lehnte es eine der wichtigsten Agenturen für Schiffskapitäne ab, ihn zu vermitteln. Nun klagt Kaltegärtner dagegen. Jeannette Hagen hat ihn interviewt.

635 Seiten lang ist die Ermittlungszusammenfassung, in der den ehemaligen Besatzungsmitgliedern der luventa Beihilfe zur illegalen Migration vorgeworfen wird. Das Verfahren gegen einige von ihnen wird demnächst im sizilianischen Trapani eröffnet. Sie sind nicht die einzigen, die dafür, dass sie Menschenleben retten, an den Pranger gestellt werden. Wer heute auf ein Schiff einer privaten Seenotrettungsorganisation geht, um Menschenleben zu retten, muss damit rechnen, verhaftet und eingesperrt zu werden oder seinen Job zu verlieren.

Manchmal reicht es sogar schon, wenn man sich mit Seenotrettern solidarisiert. So wie bei Kai Kaltegärtner, der als Kapitän für zwei NGOs auf Rettungsschiffen unterwegs war und 2017 an einer Protestaktion gegen das Sterbenlassen im Mittelmeer und gegen das Malta Abkommen teilgenommen hat. Das Malta Abkommen sah eine Stärkung der libyschen Küstenwache und die Zurückweisung von Geflüchteten vor. Als die Zeitarbeitsfirma und Vermittlungsagentur Total Crew BV, über die Kaltegärtner normalerweise befristete Stellen als Kapitän und Offizier bezog, einen Klienten hatte, der Kaltegärtner wegen seines Engagements ablehnte, strich die Agentur ihn kurzerhand von der Liste und nahm ihn aus der Vermittlung. Kaltegärtner wollte das so nicht stehenlassen und klagt nun auf Diskriminierung.

junger Mann mit braunen Haaren schaut in die Kamera, Kai Kaltegärtner
Kai Kaltegärtner ©Lou Huber-Eustachi // Oben: Ostern 2017 ©Ruben Neugebauer

Wie ist der aktuelle Stand?

Der erste Schritt ist gemacht. Ich habe ja 2021 in den Niederlanden Klage beim Menschenrechtsausschuss College voor de Rechten van de Mens eingereicht. Das ist eine Art Schiedsgerichtes, die auch im policy advice Bereich tätig sind. Das heißt, dass sie das, was sie an Expertise sammeln, auch in die Politik mit einbringen. Die Urteile sind allerdings nicht rechtsverbindlich. Es war also klar, dass auch dieses Gerichtsurteil (Anmerkung: Sie gaben Kaltegärtner Recht.) nur ein Zwischenschritt sein wird, weil es eben die gegnerische Partei, sofern sie verliert, nicht dazu verpflichtet, etwas aus diesem Urteil mitzunehmen oder zu ändern. Bisher gab es von der gegnerischen Partei auch keine Antwort auf dieses Urteil.

Warum bist Du diesen Weg gegangen und hast nicht direkt geklagt?

Ja, ich hätte den Prozess, den ich jetzt anstrebe, auch direkt machen können, aber meine Anwältin und mein Anwalt meinten, es sei besser, diesen Zwischenschritt zu gehen, um zu schauen, wie die Erfolgsaussichten sind. Weil das Thema – auf eine Form der politischen Diskriminierung wegen Seenotrettung zu klagen –, eben auch ein besonderer Fall von Diskriminierung ist. Der wird von Gerichten besonders betrachtet werden, weil er eben kein klassischer Diskriminierungsfall ist. Momentan bereiten wir mit diesem Urteil die Klage vor, prüfen, was die Prozesskosten, die Prozessdauer und was dazu eingereicht werden muss. Es läuft auf einen Schadensersatzprozess hinaus. Ich muss darauf klagen, dass mir Einkünfte entgangen sind.

Ah, nur auf den Punkt Diskriminierung kann man in diesem Fall nicht klagen? Ich frage, weil das Ganze doch auch eine moralische Komponente hat.

Damit ich diesen Prozess überhaupt führen kann, muss ich auf diesen Punkt klagen. Das Urteil am Ende kann natürlich dann ein geteiltes Urteil sein. Es kann sagen, dass es mir recht gibt, dass diese Diskriminierung eine Diskriminierung war, es kann aber auch der anderen Seite zuschreiben, dass der Schaden, um den ich klage, eben nicht klar der Agentur zugeteilt werden bzw. von denen zurückgefordert werden kann. Mir ist es jetzt auch eher wichtiger, das rechtlich festzuziehen, um überhaupt ein Urteil zu haben. Im besten Fall ist es dann eins, in dem festgestellt wird, dass diese Art der Diskriminierung eben nicht in Ordnung ist. Damit würde das Urteil dann auch als Präzedenzfall für andere stehen. Auch für Agenturen, die – sollten sie noch einmal vor so einem Fall stehen – abgeschreckt sind und anders verfahren, als Total Crew. Und natürlich wäre es für andere Menschen, die ebenfalls von einer derartigen Diskriminierung betroffen sind, eine Unterstützung.

Was macht das mit Dir, dass wir in einer Welt leben, in der man sich dafür rechtfertigen muss, dass man Menschenleben rettet? Oder was macht das auch mit der Gesellschaft?

Ich bin enttäuscht, aber nicht überrascht. Ich glaube, die Situation, in der ich mich gerade wiederfinde, da bin ich eben nicht die einzige Person auf der Welt, der es so geht. Es gibt eben gewisse Tendenzen, die – auch abhängig von Wahlen – mal stärker und mal weniger stark sind. Aber es ist immer wieder enttäuschend zu sehen, wie gewisse Spielräume, oder sagen wir mal ‚Grauzonen‘, genutzt werden, um auf dem Rücken der schwächer gestellten Menschen Politik zu machen. Womit ich mich jetzt nicht selbst meine, sondern die, die am Ende davon betroffen sind, nämlich Menschen auf der Flucht.

Hast Du aktuell vor, weiterzumachen, also wieder auf Rettungsmission zu gehen?

Ich war Ende letzten Jahres bis in dieses Jahr hinein auf der Sea Watch 4, die jetzt die SOS-Humanity 1 ist und habe dort während der Hafenliegezeiten mitgearbeitet und auch an Ausbildungsinhalten mitgewirkt. Ich bin mit einem Ohr immer dabei, unterstütze oder unterhalte mich mit Menschen, die aktiv tätig sind. Seit Mai dieses Jahres habe ich einen festen Job im Bundestag. Da ist auch gerade sehr viel los – insofern: Ich mache das gerne, aber ich bin auch froh, wenn sich andere Personen finden, die sich einbringen. Und ich denke, dass es bei der Position, die ich da bekleidet habe, auch nicht schlecht ist, wenn es Menschen machen, die auf regelmäßiger Basis dort arbeiten, also dauerhaft angestellt sind. Für mich ist das momentan nicht die erste Option, als Kapitän oder Erster Offizier auf einem Seenotrettungsschiff zu arbeiten. Es ist auch nicht so, dass diese Schiffe Probleme damit haben, Personal zu finden. Viel problematischer ist ja nach wie vor, dass die Schiffe von Hafenstaatenkontrollen oder anderen Repressionen zurückgehalten werden, Notrettungen auszuführen.

Gräber für Geflüchtete auf Lesbos
Gräber für Geflüchtete auf Lesbos ©Jeannette Hagen

 

„Aber es ist immer wieder enttäuschend zu sehen, wie gewisse Spielräume, oder sagen wir mal ‚Grauzonen‘, genutzt werden, um auf dem Rücken der schwächer gestellten Menschen Politik zu machen.“

Was war denn Deine Intention, warum bist Du auf eine Seenotrettungsmission gegangen?

Das war unspektakulär. Ich bin gefragt worden, weil Personal gesucht wurde und mir war bewusst, dass ich nicht die Erfahrung, in Krisengebieten und in solchen Situationen zu arbeiten hatte, dass ich aber mit meinem Fachwissen aus der Seeschifffahrt zumindest das Schiff gut operieren kann. Es hat gut funktioniert und so habe ich weitergemacht.

Wie hast Du denn selber Deine Erfahrungen verarbeitet? Hattest Du Strategien?

Die ganz aktive Phase ist jetzt ja schon ein bisschen her. Aber mir hat die Solidarität untereinander und die, die aus der Zivilgesellschaft herauskam, geholfen. Die Familie war auch ein wichtiger Ankerpunkt. Man kommt eben aus einer komplett anderen Welt in eine Welt hinein, in der eine gänzlich andere Realität herrscht. Und diese Kontraste sind eine echte Herausforderung. Ich glaube, das braucht immer seine Zeit und auch die Unterstützung und Solidarität, von der ich gerade gesprochen habe. Sport ist ein guter Punkt für mich gewesen. Ich klettere gern, mach das auch gern mit Freunden zusammen. Radfahren, Radtouren, mit Menschen darüber reden – das sind Strategien. Und das Studium der Politikwissenschaft war auch eine gute Möglichkeit, das erlebte Wissen auf einer akademischen Ebene zu vertiefen.

Geflüchtete auf einem Schlauchboot
Geflüchtete in einem Boot 2016 (unscharf zum Schutz der Persönlichkeitsrechte) ©Jeannette Hagen

Kann man sich denn auf solche Extremsituationen, die ihr da immer wieder erlebt habt, vorbereiten?

Das ist sehr individuell. Man muss sich immer fragen: Was gibt mir Halt, was nimmt mir Angst? Das ist von Mensch zu Mensch verschieden. Ich würde von mir sagen, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema Stress, mit dem Thema Konfrontation, mit Situationen, die man aus dem Alltag nicht kennt, wichtig ist. Menschen, die aus der Pflege kommen oder im Krankenhaus arbeiten, sind öfter mit dem Thema Tod konfrontiert, Menschen, die das vorher nicht waren, sollten sich darüber Gedanken machen. Heute ist es aber auch so, dass es sehr viel Lektüre, Filmmaterial, Blogposts zum Thema gibt, also man geht nicht auf komplett unbetretenes Terrain, sondern kann aus den Erfahrungen vieler, die darüber geschrieben und berichtet haben, lernen und vorher herausfinden, was für Gefühle das auslöst, da zu sein. Das ist bestimmt auch eine gute Form der Vorbereitung, sich mit denen auszutauschen, die schon dort waren.

Was würdest Du Dir denn wünschen? Wie sollte die Politik aussehen? Soll es wieder eine staatliche Rettungsmission geben, so etwas wie Mare Nostrum? Es werden ja immer Menschen kommen. Wie sollen wir den Herausforderungen begegnen?

Ich denke, dass man so etwas immer von Anfang bis Ende betrachten sollte, also dass man zum Beispiel dieses Argument „es werden immer Menschen kommen“ auch mal hinterfragt. Ja, die Klimakrise ist eine Realität, die wird dazu führen, dass sich innerhalb Europas, auch innerhalb Deutschlands Bewegungen auftun werden, weil gewisse Gebiete nicht mehr bewohnbar sein werden. Deshalb stimmt natürlich die Aussage, dass es immer Bewegung in irgendeiner Form geben wird. Auf der anderen Seite kann man natürlich auch immer sagen: Wir müssen alles dafür tun, dass so wenig wie möglich Menschen gezwungen sind, flüchten zu müssen. Also das heißt, dass wir das 1,5 Grad Ziel einhalten. Dass wir in der globalen Außenpolitik Aspekte beachten, also den Schwerpunkt auf Frieden setzt. Ökonomisch darauf achtet, keine zu große Ungleichgewichte entstehen zu lassen. Auf der anderen Seite gibt es Möglichkeiten, Flucht, für die die flüchten müssen, sicher zu gestalten. Da haben wir viel gelernt und aus dem Gelernten kann man einiges mehr machen, als wir momentan tun. Mit dem Regierungswechsel findet eine andere Herangehensweise statt, die vieles verändert. Aber so lange es notwendig ist, zivile Seenotrettung rauszuschicken, muss die still, also verlässlich stattfinden können. Und dazu gehört auch die Unterstützung in allen Aspekten – also auch in der Aufnahme im Nachhinein, in der Ausbildung, Ausrüstung, Bereitstellung von Personal. Da sind Möglichkeiten vorhanden, das anders zu machen, als es bisher passiert ist. Aber das ist ein sehr komplexes Feld und meist liegt die Lösung ja nicht bei einem Staat. 

Grundsätzlich fände ich es gut, wenn die Seenotrettung nicht notwendig wäre und wir sichere Fluchtwege hätten, die nicht daraus bestehen, dass die Menschen erst auf Boote steigen müssen, die per se gefährlich/tödlich sind. Das wäre durch sichere Kontingente eine sichere Fluchtroute, ein Organisieren dessen, natürlich großartig. Fände ich persönlich besser, als sich dauerhaft auf Seenotrettung verlassen zu müssen.

Grenzschutzboot Griechenland
Boot der Grenzschützer in Griechenland ©Jeannette Hagen
freiwillige Helfer:innen bei einem Seenotrettungseinsatz
freiwillige Helfer:innen bei einem Einsatz auf Lesbos ©Jeannette Hagen

Hast Du wirklich den Eindruck, dass unsere Regierung jetzt eine andere Linie fährt? Es ist noch nicht lange her, da hat Nancy Faser gesagt, dass wir unsere Außengrenzen besser schützen müssen.

Die Ampelregierung besteht aus unterschiedlichen Meinungen. Ich sehe auch positive, andere Einstellungen, eine andere Haltung zu Migration und Flucht. Mich hat das allerdings auch verwundert, was Nancy Faser da gesagt hat. Trotzdem bleibe ich optimistisch, dass da eine Regierung ist, die vielleicht auch mal ihre Meinung ändern kann, wenn sie mit guten Argumenten konfrontiert ist.

Ich habe das Gefühl, dass das Thema Seenotrettung momentan untergeht und die vielen Toten weiter in Kauf genommen werden und in den Medien eher eine Randnotiz sind.

Das ist in der Tat gerade ein Problem. Ich sehe, dass mit der neuen italienischen Regierung neue Fakten geschaffen werden, die das Thema Seenotrettung in seinen Aspekten dann wieder stark verändern könnte, weil so viel davon abhängt, wie sie sich verhalten.

Gibt es schon Konkretes?

Ich bin mir relativ sicher, dass bei dem, was die Parteien im Wahlkampf gesagt haben und mit dem, was man damals gesehen hat, als Mateo Salvini zuständig war, erwarten kann, dass es eher schwierig und auch kommunikativ, also vom Stil her, nicht schön wird.

 

Möchtest Du noch etwas ergänzen, etwas, das Dir wichtig ist?

Ich möchte die Gelegenheit gern nutzen, und würde gern ein bisschen Werbung für den Sea-Watch Legal-Aid-Fund (SWLA) machen. Sie haben mich bei der ersten Klage unterstützt, weil es ein privatrechtlicher Fall war, den meine Versicherung nicht gezahlt hat. Der SWLA hat einen Grundstock, unter anderem auch aus den Geldern, die damals zusammenkamen, als Carola Rakete verhaftet worden ist. Zusätzlich unterstützt der SWLAF auch Menschen, die es auf Booten nach Italien oder Griechenland geschafft haben. Das ist leider nicht so präsent, aber es gibt auf diesen Booten natürlich immer Personen, die hinten sitzen und etwas damit zu tun haben, wie das Boot gefahren wird. Man wirft den Menschen dann vor, dass sie die Leute nach Italien oder Griechenland gebracht hätten, wirft sie in einen Topf mit Schleusern und Schleppern, beschuldigt sie also der Beihilfe zur illegalen Migration. In Griechenland kann es passieren  dass sie verurteilt werden und pro Person, die mit im Boot saß, zehn Jahre Haft kriegen – das können dann mal locker 100 bis 1000 Jahre Gefängnis sein. Und das sind natürlich Menschen, die ohne große Unterstützung dastehen und die werden vom SWLA unterstützt. Das ist eine großartige Sache, die leider wichtig ist, weil Staaten auch dieses Mittel der Verurteilung von solchen Menschen auch nutzen, um Abschreckungspolitik zu machen.

Und eine andere Sache, auf die ich hinweisen wollen würde, ist, dass jetzt demnächst das Verfahren gegen die vier übrig gebliebenen Beschuldigten aus der luventa-Beschlagnahmung in dem seit fünf Jahren andauernden Ermittlungsverfahren wieder vor Gericht stehen werden. Da ist weiterhin unklar, wie dieser Prozess geführt wird und was daraus resultiert. Allerdings schwebt da auch das Damoklesschwert „Beihilfe zur illegalen Migration“ über den Köpfen, was eine lange Haftstrafe bedeuten würde. Auch da ist es gut, wenn die Menschen Unterstützung bekommen und sie nicht allein gelassen werden mit diesem Prozess. 

Vielen Dank, Kai Kaltegärtner, für das Gespräch.

Wer den Sea-Watch Fund unterstützen möchte, kann das hier tun: https://swla.eu/en/projects/

Quellen: 

Vom Mittelmeer ins Gefängnis – Wie Geflüchtete zu Schleppern gemacht werden | deutschlandfunk.de

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Jeannette Hagen arbeitet als freie Autorin und Kolumnistin in den Schwerpunkten Gesellschaft, Psychologie, Politik und Kunst für verschiedene Medien und Verlage. Neben dieser Arbeit und dem Studium der Politikwissenschaft an der FU Berlin setzt sie sich aktiv für Menschenrechte ein.

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