Die Welt ins Gleichgewicht bringen

Ein Gespräch mit Evolutionspädagogin Silke Gramer-Rottler

Die Pandemie stellt alle vor neue Herausforderungen und Überforderungen. Stark betroffen sind Familien, die in Zeiten von Schulschließungen, Lockdowns und Homeoffice ihren Alltag komplett neu organisieren mussten. Evolutionspädagogin Silke Gramer-Rottler erklärt im Gespräch, wie man anhand ihrer Arbeit unterstützend in das System Familie eingreifen kann.

Veronika Fischer: In den letzten 1,5 Jahren waren Familien mit Kindern stark belastet. Wie hast du diese Zeit als Evolutionspädagogin erlebt und welche Herausforderungen siehst du aktuell?

Silke Gramer-Rottler: Also zunächst einmal finde ich das Wort „Belastung“ oder auch die „Belastungsstörung“, die sich dann daraus ergibt, keinen guten Begriff. Es gab sehr viel mehr Stress für Eltern und auch für die Kinder, das ist klar. Aber wenn man den Fokus aufs Negative legt, dann sieht man eben nur Probleme und Verhaltensauffälligkeiten, die entstehen. Es gibt immer Faktoren von außen, die Stress erzeugen, und gerade erleben wir viele Begrenzungen. Der Wunschzustand, den viele haben, ist eine Balance oder Harmonie. Aber wenn das immer der Fall wäre, würde das ja auch bedeuten, dass sich nichts verändert und nichts vorangeht. Es braucht also das Ungleichgewicht und die Herausforderungen. Wichtig ist, dass immer wieder ein Gleichgewicht hergestellt wird. Die Pandemie ist eine Herausforderung, der müssen wir uns stellen. Es ist mir aber auch wichtig zu erwähnen, dass es Kinder gab, die z. B. das „Nicht-zur-Schule-gehen- dürfen“ auch als sehr angenehm empfunden haben, sie fühlten sich dadurch unheimlich frei und konnten sich besser entfalten; das Lernen wurde dadurch vom Müssen zum Dürfen. Auch diese Erfahrung dürfen wir nicht unter den Tisch kehren. Denn den Druck, der in unserem Schulsystem nach wie vor da ist, dürfen wir nicht außer Acht lassen. Alles hat zwei Seiten.

Und für dieses Gleichgewicht hast du mit der Evolutionspädagogik ein Modell an der Hand?

Genau! Die Evolutionspädagogik ist keine Methode und keine Therapie, sondern eben ein Modell, das übergeordnet funktioniert. Es gibt ja ganz viele verschiedene Ansätze: Montessori, Waldorf, freies Lernen und so weiter… Das kann man alles in das Modell der Evolutionspädagogik integrieren. Und das Modell funktioniert nicht nur für Kinder, sondern auch für Familien, Schulklassen, Altersheime, Firmen etc. – einfach überall, wo Menschen sind. Es ist das demokratischste Modell, das es gibt. Man muss es nur verstehen und anwenden können.

Foto: ©Brian McClatchy
Silke Gramer-Rottler ist Leiterin des Internationalen Institut für Kommunikation, Evolution und Bewegung.
Foto: ©Brian McClatchy

Magst du ganz kurz erklären, was die Grundauffassung des Modells ist?

Die Grundidee ist, dass unser Gehirn sich in aufeinander aufbauenden Stufen entwickelt. Man könnte auch sagen, „Lernen-ist-ein-langsames Sich-aufrichten“. Der Mensch im Mutterleib durchläuft bestimmte Stadien und macht eine Entwicklung vom Einzeller zum Homo sapiens durch. Und hier gibt es eben manchmal Vernetzungen, die nicht richtig funktionieren. Da setzt dann die Evolutionspädagogik an. Beim Kind arbeitet man mit sieben Bewegungsstufen: dem Fisch, der Amphibie, dem Reptil, dem Säugetier, dem Affen und dem Urmenschen. Und beim Erwachsenen sind es sieben Kommunikationsstufen. Jede Stufe hat eigene Aufgaben und Ziele, die erreicht werden können.

Und wie erkennst du dann, in welcher Entwicklungsstufe jemand nicht weiterkommt?

Ich beobachte das Kind und sehe anhand der Bewegungen, wo ich es abholen muss. Und bei Erwachsenen geht eigentlich alles über die Sprache. Da ist sehr schnell klar, wo jemand gerade blockiert ist. Es kann zum Beispiel sein, dass ein Paar zu mir in die Beratung kommt und beide ihre Probleme beschreiben. Dann wird schnell deutlich, dass es der einen Person jetzt um das Vertrauen geht, sie ist also in der Stufe des Fischs. Und der anderen Person geht es um die persönliche Positionierung. Das ist die Stufe des Urmenschen. Die beiden können sich also gar nicht unterhalten, weil sie nicht dieselbe Sprache sprechen.

Und was machst du dann?

Ich wende das 90°-Coaching an, bei dem sie sich bewusst werden, auf welcher Ebene sie gerade sind. Über das 90°-Coaching gelingt es, die Ebene der Spannung und des Konfliktes zu verlassen. Man könnte auch sagen: Im Gehen liegt die Lösung.

Was sind denn pandemiebedingt die Grundthemen, die dir begegnen?

Aktuell haben wir viel Wut, Angst und Unsicherheit in der Gesellschaft. Das Urvertrauen fehlt vielen. Auch hier gilt es, wieder die Balance herzustellen. Das ist eine Aufgabe, die jede und jeder einzelne für sich lösen kann, die aber letztendlich unsere gesamte Gesellschaft betrifft.

Weitere Informationen zum Modell der Evolutionspädagogik und den Angeboten zum Institut findet ihr hier.

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Veronika Fischer lebt in Konstanz und ist Mutter von drei Söhnen. Als freischaffende Journalistin kommt sie an außergewöhnliche Orte, trifft ganz unterschiedliche Menschen und schreibt darüber für Kulturmagazine und Zeitungen.

Foto: ©Jette Marie Schnell

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