Der Wunsch nach Wandel

Wie sich der Traum von einer friedlichen Zukunft für ein zerrüttetes Land nicht erfüllte

Es ist der 11. September 2021 und ich sitze in einem Café am Mauerpark in Berlin. Für eine Fortbildung bin ich in die Hauptstadt gekommen, nutze die lange Pause zwischen zwei Vortragsblöcken. Gestern Abend hielt Prof. Buyx vom Deutschen Ethikrat eine Keynote-Präsentation. Ethik in der Medizin ist besonders in den letzten eineinhalb Jahren Pandemie sehr heftig diskutiert worden. Ethik und ethischer Konflikt sind Dinge, die schon immer meine Entscheidungen als Arzt jeden Tag begleiten. 

Vor zwanzig Jahren ereigneten sich die furchtbaren Anschläge auf das World Trade Center in New York. Ausgeführt von überwiegend saudischen Staatsbürgern, geplant und geleitet von Osama bin Laden, vorbereitet in dem von den Taliban seit 1996 besetzten Afghanistan. Vor genau zwanzig Jahren begannen die USA mit ihrem „War on Terror“. Vor genau zwanzig Jahren bombardierten sie Stellungen der Taliban, vertrieben sie aus der afghanischen Hauptstadt Kabul und ersetzen sie durch korrupte und brutale Warlords und afghanische Exilpolitiker. Sehr schnell bildete sich aus dieser explosiven Mischung die neue korrupte, reiche Elite Kabuls, welche sich ihre Macht und ihren Einfluss durch gefälschte Wahlen legitimierte. 

Jetzt, nach zwanzig Jahren, sind die Taliban wieder an der Macht. Der korrupte und – viele würden mir zustimmen – faschistische Präsident Ghani floh aus dem Land. Erst wollte er nach Tadschikistan, dann in den Jemen, schließlich ist seine Maschine in Dubai gelandet. Manche, die sich mit dem Land und der Region in der Vergangenheit sehr intensiv auseinandergesetzt haben, wie der Journalist Emran Feroz, waren von dieser Entwicklung nicht überrascht. Ich, wie viele andere, aber schon.

Zwischen Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit

Und so kommt es, dass ich in den letzten Wochen in einem Zustand zwischen Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit schwebte, mehr funktionierte, als lebte. Die Nachricht von der Machtübernahme der Taliban hat etwas in mir zerbrechen lassen, etwas tief in meinem Herzen. Ich wurde von einer mentalen Abwärtsspirale in die nächste gerissen. Erst vor kurzem habe ich die Hochwasserkatastrophe in Bad Neuenahr miterlebt (unser Krankenhaus war direkt von der Flut betroffen) und wie viele andere bin ich noch dabei, diese Katastrophe zu verarbeiten. Und plötzlich realisiere ich, dass ich mich wie viele hier im Westen lebende Menschen in den letzten zwanzig Jahren vom „War on Terror“ habe täuschen lassen. Insgeheim hatten wir alle eine Vorahnung, aber wir haben uns an kurzfristige Erfolge geklammert.

Wir wurden müde und unser Interesse an den unzähligen Berichten aus Guantanamo Bay, von Menschen, die in den illegalen Foltergefängnissen der CIA durch Waterboarding gefoltert wurden, ebbte ab. Dann kam Barack Obama und alles verlagerte sich auf Drohnen. Noch „leiser“ führten sie ihren „Auftrag“ aus, jedes Mal wurde uns gesagt, ein ranghoher Taliban- oder Al-Qaida Führer wurde getötet. Dabei laufen diese Personen heute als Minister oder wichtige Funktionäre der neuen Talibanregierung in Kabul oder Kandahar frei herum. Wer starb also bei diesen Angriffen? Und hat uns das überhaupt noch interessiert?

Auch die Taliban und ihre Anhänger verübten brutale Massaker, besonders an der Volksgruppe der Hazara. Polizisten und ihre Angehörige wurden ermordet. Journalisten und weibliche Aktivistinnen bedroht. Auch der Regierung Ghanis sagt man solche Einschüchterungen und Ermordungen nach. Allein im letzten Jahr sollen gezielt regierungskritische Journalist:innen oder Aktivist:innen von der afghanischen Regierung oder vom Geheimdienst eingeschüchtert, verschleppt, gefoltert und ermordet worden sein. Jetzt, wo Ghani geflohen ist und die Regierung nicht mehr existiert, werden diese Fälle wohl in Vergessenheit geraten.

Nabard Faiz mit seinen Onkeln
Afghanistan: ein Land der Vielfalt?

Gebrochene Versprechen

Und trotz Wahlen und Versprechen der Politiker:innen auf Fortschritt und Frieden glaubten immer weniger Afghan:innen der Regierung Ghani. Vielleicht lag es auch daran, dass sich seit dem Sturz der Taliban 2001 ehemalige Warlords und Drogenbarone als politische Akteure festgesetzt hatten und dank ihrer einflussreichen westlichen Verbündeten, ihres Reichtums oder ihrer Privatarmeen die Positionen und Ämter nach Belieben an sich rissen und untereinander verteilten – notfalls auch mit Gewalt. 

Dennoch hat sich in Afghanistan in den letzten Jahren eine neue, junge Generation herausgebildet, die demokratisch denkt und handelt und lautstark ihre Rechte einfordert. Diese neue Zivilgesellschaft setzt sich auch jetzt noch inklusiv für die Rechte aller Afghan:innen ein, trotz der Gefahr, von den Taliban gefangen und gefoltert zu werden.

Diese urbane Elite besitzt alle Tools für gesellschaftliche Partizipation. Sie weiß um die Bedeutung von freien und geheimen Wahlen, wie wichtig eine freie Presse und Meinungsfreiheit und wie essenziell Wohlstand und Frieden für gesellschaftliches Wachstum sind.

Alle Fotos hat uns ©Nabard Faiz zur Verfügung gestellt.

Vor der Machtübernahme der Taliban sprachen Freund:innen und Verwandte, die in den afghanischen Großstädten lebten, davon, welche Projekte sie als Nächstes realisieren oder welche Demonstration sie organisieren wollten. Zur gleichen Zeit fragte sich der andere Teil meiner Familie, der eher auf dem Land wohnt, ob es im Frühjahr wieder Bombenanschläge geben, ob die Dürre dieses Jahr nicht so stark ausfallen oder ob bei gutem Wetter erneut Drohnen über die Dörfer fliegen und Bomben abwerfen würden. Beide Seiten fragten sich, ob der lokale Warlord, der gleichzeitig Abgeordneter war, die Menschen weiter drangsalieren wird oder die nächste Demonstration niederschlagen lässt.

Demokratie steht und fällt mit ihren freien Bürger:innen, freien Journalist:innen und mit gutem, kritischen Journalismus. Und es sind gerade diese freien Bürger:innen und kritischen Journalist:innen die trotz der Machtübernahme der Taliban immer noch an ein demokratisches, freies Afghanistan glauben, eines ohne Krieg, Drohnenbomben und Geheimdienstmorden.

Ernüchterung

Ich war 2006 das letzte Mal in Afghanistan, meine Geschwister 2018. Damals sprachen in Afghanistan alle von Wahlen und von Veränderungen, was folgte, waren nicht nur die üblichen leeren Versprechungen von Politiker:innen, die wir hier in Deutschland ja auch zu Genüge kennen, sondern auch die gravierende Korruption. Viele Hilfsgelder, die für Projekte und Strukturen eingesetzt werden sollten, landeten im Nirgendwo. Was folgte, war eine gewisse Ernüchterung, dass nicht immer die Menschen in Afghanistan selbst die Zukunft ihres Landes in ihren Händen hielten und den Kurs bestimmen konnten. Auch änderte sich ihr Ton. Und selbst die größten Optimisten sahen ein, dass die Zukunft Afghanistans nicht durch ihren Willen entschieden wird, sondern am großen Verhandlungstisch der westlichen Mächte und der politischen Elite Kabuls, die teilweise im Ausland Immobilien oder Hotelanlagen besitzen soll. Eine große Resignation, die auch an mir nicht spurlos vorbei zog.

Nabard Faiz bei seinem letzten Besuch in Afghanistan

Ich durfte seit 2001 an 14 Wahlen in Deutschland teilnehmen. Meine Stimme wurde gezählt. Gleichzeitig konnte ich mich ohne allzu große Sorgen gesellschaftlich engagieren. Aufgrund meines Engagements wurde ich Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung, habe erfolgreich Medizin studiert. Für mich ist gesellschaftliche Partizipation etwas absolut Selbstverständliches, Normales; sie ist gar nicht mehr wegzudenken aus meinem Verständnis einer demokratischen Gesellschaft. Aber wie ergeht es jenen jungen Afghan:innen, die ihre Hoffnung auf Wahlen und Partizipation gesetzt haben, jenen jungen Menschen, die nach 9/11 und dem Sturz der Taliban ein Land erlebt haben, welches im Fokus der Weltgemeinschaft stand und dem man versprach, bei seinem wiederholten Versuch, demokratische Schritte zu gehen, zu helfen? Und den Menschen aus Afghanistan, die trotz der Traumata und schrecklichen Erlebnisse die Hoffnung und die Sehnsucht nach Frieden nicht aufgegeben haben?

Darüber denke ich gerade nach, während der Kellner einem Gast ein Stück Mandelkuchen reicht. Gegenüber summt das Kühlregal, aus den Boxen spielt ein Saxofon. 

Ich sehe eine Gruppe von Touristen am Café vorbeilaufen, sie sprechen über die Berliner Mauer und wie heftig das Leben in der Diktatur gewesen sein muss und wie erstaunlich es ist, dass sie mit Hilfe friedlicher Proteste beendet werden konnte. Natürlich ist die Wahrheit komplexer, aber in den Köpfen der Menschen bleibt der friedliche Protest in Erinnerung, der die Mauer gestürzt hat. Afghanistan ist nicht die DDR, aber die Spuren des Kalten Krieges sind dort bis heute sichtbar.

Ein Bittgebet

Ich blicke auf mein Handy, über Twitter kommt die Meldung von Hinrichtungen und „Gräueltaten in großem Umfang“ in Pandschir, wie der der afghanische UN-Botschafter Ghulam Isacsai berichtete. Wie Amnesty International später berichtet, verüben die Taliban Menschenrechtsverletzungen und vertreiben ganze Bevölkerungsgruppen wie zum Beispiel die Hazara aus ihren Häusern und Dörfern. Kinder sollen von ihren Familien entrissen und entführt worden sein. Das letzte Mal, als ich so eine Nachricht las, vertrieb der IS die Jesid:innen und verübte einen Genozid. Wie kann man so etwas durch friedlichen Protest aufhalten, frage ich mich. Auf der anderen Seite haben auch vierzig Jahre Krieg zu keinem wirklichen Erfolg und zu Frieden geführt. 

Eigentlich wollte ich nach dem letzten Absatz aufhören zu schreiben. Aber ich erinnere mich an einen Satz eines lieben Freundes, der mal nach einem schrecklichen Ereignis zu mir sagte: „Nabard, du schaffst es immer, den letzten Satz positiv und hoffnungsvoll abzuschließen.“ Diesmal fällt es mir schwer, weil ich in der Ungewissheit der Zukunft und der bitteren Erfahrung der Vergangenheit eigentlich nur beten kann. Ein „Dua“, ein Bittgebet, wie es im Persischen und Arabischen heißt. Ich bete für die Menschen in Afghanistan, für die Frauen, die für ihre Rechte demonstrieren, für die Kinder, die dafür aufstehen, dass auch Mädchen in die Schule gehen können. Ich bete dafür, dass die Welt die Menschen Afghanistans nicht wieder vergisst. Es steht den Afghan:innen in Afghanistan und uns Afghan:innen in der Diaspora erneut eine lange Reise bevor. Ich muss an die Textzeile des berühmten afghanischen Sängers Ahmad Zahir denken:

خدا بود يار Möge Gott dein Begleiter sein

قرآن نگهدارت Die (Weisheit des) Korans dein Schutz

سخی مددگارت Und die Großzügigen deine Stütze

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Nabard Faiz lebt in Bonn und ist Arzt in der Kardiologie in Bad Neuenahr-Ahrweiler. Seine Familie floh aus Afghanistan als er noch klein war.

Foto: ©Privat

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