der porzellancode

Empathie aus Porzellan

Kunstprojekt „One Million“ überschreitet Milieugrenzen

Kunst um der Kunst Willen zu machen, das reicht der Künstlerin Uli Aigner nicht. Deshalb kreierte sie das lebenslange Porzellanprojekt „One Million“. Eines ihrer wichtigsten Anliegen ist das Aufweichen von Milieus, die „Enthierarchisierung der Welt“. Sie geht dorthin, wo es wehtut.

Aigner dreht selbst ©Michal Kosakowski

„One Million“ nennt Aigner das Projekt, weil sie sich vorgenommen hat, per Hand eine Million Objekte aus Porzellan entstehen zu lassen. Die Weißdreherin lernte von ihrem 15. bis 17. Lebensjahr töpfern, zu ihren besten Zeiten produzierte sie in einer Nacht 500 Tongefäße. Jetzt wählt sie den aufwändigen, langsameren Weg mit „dem besten Material der Welt“: Porzellan. Es wird bei 1300 Grad gebrannt, wird „steinhart und steinalt“, so Aigner. Sie möchte mit ihrem lebensübergreifendem Projekt, das sie Ende 2014, kurz vor ihrem 50. Geburtstag begann, der Kurzatmigkeit des Kunstbetriebs etwas entgegensetzen. Und so nimmt sich Aigner, die wirklich jedes Objekt selbst töpfert, für die Herstellung jedes Unikates Zeit.

Die Kunst soll den Alltag verändern

In mehreren Sessions bespricht die Konzeptkünstlerin mit ihrem Auftrageber:in, welches Stück produziert wird, meistens handelt es sich um Ess- und Trinkgeschirr. „Das spricht jede/n an, weil es jede/r braucht,“ erklärt Aigner. „In der chinesischen Tradition über die Verlebendigung von Kunst sagt man, dass ein Kunstwerk dann gut ist, wenn es das Leben von derjenigen Person, die mit ihm in Kontakt kommt, verändert.“ Auch Aigner hat sich dieses Ziel gesetzt, Menschen und ihren Alltag mit ihrer Kunst zu berühren. „Und sei es nur, dass sie aus einem von mir gedrehten Porzellangefäß ihren Kaffee trinken.“ Auf Grundlage einer Zeichnung, einer Vision oder eines Wunsches erstellt sie dann das Töpferobjekt. Doch viele Menschen haben es verlernt, zu wünschen.

„Frithjof Bergmann spricht von der Armut der Begierde, wenn Menschen ihre eigenen Wünsche nicht formulieren können und somit nicht als Antrieb für das eigene Handeln nutzen können. Stattdessen denken sie nur über ihre eigene Beschränkung nach. Dem versuche ich entgegenzuwirken und frage die Menschen, was sie wirklich wollen,“ erklärt Aigner. Ihre Vision ist milieuübergreifend. Die Weißdreherin möchte demnächst Porzellanbecher für jugendliche Obdachlose am Bahnhof Zoo entwerfen, „damit auch sie etwas haben, das ihnen gehört. Das Gefäß soll ihren Namen tragen und immer mit ihnen sein. Ich möchte, dass jeder versteht, dass er/sie einen Wert hat und sich dessen bewusst wird.“ Noch sei sie emotional nicht dazu bereit, habe es aber unbedingt vor. „Es ist wichtig, dass wir uns besonders in dieser krisengeschüttelten Zeit aus unseren Wohlfühlblasen rausbewegen. Wir müssen lernen, nicht nur hinzuschauen, sondern auch Leuten zuzuhören, die ganz anderes sind als wir selbst.“

Spuren auf einer digitalen Weltkarte 

Auf der Webseite eine-million.com kann man die Spuren des Porzellans auf einer digitalen Weltkarte verfolgen. An einem Tag zum Beispiel saß Aigner zusammen mit den zehn größten deutschen Wirtschaftsbossen beim chinesischen Botschafter am Tisch, am Tag zuvor besuchte sie ein Wohnheim für nicht mehr therapierbare alkoholkranke Männer. Sie erzählte den Wirtschaftsbossen und dem Botschafter davon. „Ich wollte den Männern im Wohnheim etwas schenken, was sie für sich schön finden, so naiv ging ich an die Sache ran“ erzählt Aigner. Als sie nach einer Gruppensitzung und einem gemeinsamen Mittagessen ihren Wunsch formulierte, schwiegen sie. Nach zwei Wochen kam sie wieder. Einer wünschte sich eine Vase für seine Mutter. Aigner verneinte. Ein drittes Mal besuchte Aigner das Wohnheim. „Ich möchte, dass ihr mir sagt, was ihr für Euch wollt, nicht für jemand anderen.“ 

Sie fragte jeden Mann nach seinem Lieblingsgetränk, weil sie wusste, dass sie auf ihren Zimmern weiterhin trinken durften. Nur zögerlich vertrauten sie ihr die wahre Antwort an. Aigner produzierte einen Whiskeybecher, ein Bierglas und andere Gefäße für Alkoholika. „Natürlich legte ich damit den Finger in die Wunde, aber ich wollte ihnen zeigen, dass ich sie mit all ihren Wünschen und Bedürfnissen respektiere.“ Sie gravierte den Vornamen des jeweils Wünschenden ein. Bei der Übergabe hatte die Künstlerin das Gefühl, dass sie vielleicht eine Grenze überschritten hatte, so leise bedankten sich die Männer. Erst im Nachhinein, als sie ein privates Video der Übergabe sichtete, sah sie, was sie bewirkt hatte und weinte. Wenn einer der Männer stirbt, bleibt das Trinkgefäß wie ein kleines Denkmal im Hospiz. Manchmal fragt eine nahestehende Person danach.

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Aigner neben dem Porzellankoloss ©Michal Kosakowski

Dellen als Symbol für Andersartigkeit

„One Million“ hat viele Gesichter. Vor kurzem arbeitete die Weißdreherin unter anderem mit Fingerabdrücken auf Ess- und Trinkgeschirr. Gemeinsam mit dem französischen Objekt- und Installationskünstler Saâdane Afif beispielsweise produzierte Aigner Teller mit seinem ruhenden Daumen auf der Vorderseite, der Abdruck der anderen vier Finger ist auf der Rückseite erkennbar (zum Beispiel Item 6060). Für den österreichischen STARThilfe-Verein, welcher Menschen mit geistigen und seelischen Beeinträchtigungen hilft, ihren Alltag zu bewältigen, drehte Aigner 20 eigens dafür entworfene Daumenbecher (Item 6980 und 6981). Mit dem Daumen drückte sie das Gefäß ein, auf der anderen Seite ist klar eine Erhebung für den durchgedrückten Daumen erkennbar. Das habe sich die Leiterin der Einrichtung so gewünscht: „Sie meinte, es seien Menschen, die kleine Dellen haben und sie sind sonst eigentlich normal. Das ist kein Fehler, sondern einfach nur was anderes.“  Durch die besondere Machart liegen die Porzellanbecher gut in der Hand und geben Halt. Die Daumenbecher stiftet sie dem Verein, der sie vor Ort entweder versteigert oder an Spender verschenkt.

Die Becher sind auch im Onlineshop erhältlich. Bestellt jemand einen Becher aus der STARThilfe-Kollektion, dann wird der Erlös zu 100 Prozent an den Verein gespendet. Jedes Geschirrstück produziert Aigner in unlimitierter Auflage, damit jeder die Chance hat, sein Lieblingsstück im Onlineshop zu bekommen. Ihr Team, Aigners Mann Michal Kosakowski und der befreundete Künstler Tom McCallie, fotografieren jedes Stück und tragen ein, wo sich das Objekt befindet, ob es gekauft, verschenkt, gestiftet oder getauscht wurde. Gibt man die Nummer des Objektes online ein, bekommt man alle Informationen. Jedem Objekt, das Aigner weggibt, legt sie eine Produktionskarte bei. Außerdem bittet sie um Zusendung von Fotos, wie das Porzellan benutzt wird.

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Monumentales Porzellangefäß ©Michal Kosakowski

„One Million“ gegen die Wegwerfgesellschaft

Der Gebrauchsgedanke ist Aigner, die zu Hause das Geschirr auch als Alltagsgeschirr verwendet, ganz wichtig. Das Porzellan ist spülmaschinenfest und hat eine 500-Jahres-Garantie. Geht es kaputt, können die Scherben bei Aigner gegen einen intakten Zwilling getauscht werden, der eine neue chronologische Nummer bekommt. Gerade lernt die Weißdreherin, zerbrochenes „One Million“-Porzellan gegen einen Obulus von ca. 50 Euro wieder benutzbar zu machen. Es erinnert an die japanische Kintsugi-Methode, in der feinstes Pulvergold, Silber oder Platin in die Kittmasse von Keramik sichtbar eingestreut wird. Doch anders als bei Kintsugi werden bei Uli Aigner die restaurierten Stellen durch 12-karätige Brandvergoldung veredelt, die Klebeadern sind bei beiden Techniken klar zu erkennen. 

Die Wahlberlinerin, die zu Hause die gesprungenen Objekte sammelt, und diese als „One Million“-Archivskulptur auch ausstellt,  spricht sich auch bei der Produktion von „One Million“-Porzellan gegen die Wegwerfgesellschaft aus. Und so wird jeder Fetzen Porzellan, der bei der Produktion abfällt, gesammelt, später wieder aufgeschwemmt und neu verarbeitet. Die Abfälle auf der Gips-Drehplatte kann Aigner nicht für eine neue Produktion verarbeiten, weil sie eventuell Gipsanteile enthalten. Deshalb nutzt sie das verunreinigte Porzellan, um die Halbreliefkunst zu erlernen, die sie neu für sich entdecken will. Für Aigner sind die Wege von „One Million“ fast unendlich. Sie denkt gemeinsam mit ihrem Assistenten Tom McCallie über eine Modekollektion nach, die sich von dem Gedanken nährt, dass sie eigentlich kleine Körper aus Porzellan erschafft, wenn sie töpfert. Kopf, Fuß, Hals, Kragen seien Begriffe, die auch im Töpferjargon verwendet werden.

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Mahnmal gegen Depression und Suizid ©Gerald Zagler

Ein Mahnmal gegen Suizid

Mit ihrem traurigsten Werk, einem Mahnmal gegen Depression und Suizid, stellte Aigner ganz nebenbei einen Weltrekord für das größte Porzellangefäß der Welt auf. In der Porzellanstadt Jingdezhen ließ sie vier Mal 800 Kilogramm schwere, untragbare Monumentalgefäße anfertigen. Das erste Gefäß zerbrach im Brennofen, das zweite verformte sich, das dritte und vierte gelangen letztlich. Zwei der monumentalen Porzellangefäße (Item 3501 und 3501) stehen im Neuen Museum in Berlin, und eines (Item 2361), bemalt mit zwei persönlichen Zeichnungen, steht nun im Foyer ihrer Geburtsklinik im österreichischen Scheibbs. Die Malerei des letzten Sonnenuntergangs im Norden Kanadas vor monatelanger Dunkelheit erinnert Aigner an das letzte Foto, das sie von einer nahestehenden Person bekam, deren Tochter wenige Stunden zuvor den Freitod wählte. Am oberen Rand greift die Künstlerin eine mathematische Formel auf, die beweisen soll, dass die Welt eine Holografie ist. Wer in den Mostkrug hineinschaut, dem offenbart sich diese ganz andere Weltvorstellung. Beide Personen, denen Aigner, die Malereien widmet, wählten den Todeszeitpunkt selbst. 

„Ich habe zwei mir nahestehende Menschen durch Suizid verloren. Sie haben mir gezeigt, dass jeder Mensch nur eine bestimmte Zeit hat, die er/sie auf unserer Erde verbringt. Durch sie habe ich verstanden, dass ich meine Zeit nutzen möchte, um etwas zu erschaffen, was bleibt und berührt, und über unsere Lebenszeit hinausreicht. Wenn ich dahin gehe, wo es wehtut, dann kann ich Bruchstellen in der Gesellschaft sichtbar machen, die ich oft vorher selbst nicht gesehen habe.

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Susanne Gietl wollte als Kind Meeresbiologin werden. Dann entdeckte sie, dass sie auch als Journalistin in andere Welten und Wissenschaftsgebiete abtauchen kann und wandte sich der schreibenden und sprechenden Zu(ku)nft zu. Gerne entwickelt sie Audioformate und Medienkonzepte. Berlin inspiriert sie, besonders immersive Performances und Interdisziplinarität in Tanz und Theater. Über ihre Erfahrungen berichtet sie u.a. auf ihrem Blog kulturschoxx.de

Foto: © Imada Spiewok

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