„Bildung ist nicht fair“

Deutschlands bekanntester Abiturient über Noten, demokratische Werte im Unterricht und digitale Apps.

Dario Schramm ist Deutschlands bekanntester Abiturient und hat als Generalsekretär der Schülerkonferenz immer wieder die Corona- und Bildungspolitik kritisiert. Unser Autor Van Bo Le-Mentzel ist Kunstlehrer und sprach mit ihm über Schramms Buch „Die Vernachlässigten“ (Droemer). Ein Gespräch zwischen Schüler und Lehrer über Noten, demokratische Werte im Unterricht und digitale Apps, die die Schule revolutionieren könnten.

Van Bo Le-Mentzel: Du schreibst in deinem Buch: „Kein:e Schüler:in darf die Schule mehr verlassen, ohne die eigenen Stärken zu kennen. Nicht mehr und nicht weniger muss Schule leisten.“ Welche Stärken hast du in deiner Schule kennengelernt?

Dario Schramm: Kommunikation, gesellschaftliche Verantwortung, Streiten auf einem vernünftigen Niveau. Das habe ich in meiner Schulzeit gelernt, zwar nicht im Unterricht, aber an Projekten drumherum. Das müsste aber mehr Teil von Schule sein.

Du warst ein klassischer Fünfer-Kandidat. In Mathe hattest du sogar eine Sechs kassiert. Deine vorlaute Art hat dir aber auch genutzt: Zuerst warst du Schülersprecher und später wurdest du sogar zum Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz gewählt. Läuft bei dir, könnte man sagen. Haben sich die Lehrer:innen, die nicht an dich geglaubt haben, eigentlich mal bei dir entschuldigt?

(Lacht) Ich war kein Überflieger, habe nie wirklich für Klausuren gelernt. Das hat sich auch in den Noten gezeigt. Ich glaube, viele Lehrer:innen hatten mit mir zu kämpfen und waren froh, dass sie mich nicht mehr jeden Morgen um acht im Klassenraum sehen mussten. Aber tatsächlich habe ich noch zu vielen Lehrerinnen und Lehrern Kontakt, weil ich ja im Bereich Schule aktiv bin. Ich hoffe, dass wir immer mehr dahin kommen, dass das Verhältnis zwischen Schüler:innen und Lehrer:innen nicht mehr als Kampf gesehen wird. Als Lehrperson kann man sich auch Respekt verschaffen, indem den Schüler:innen auf Augenhöhe begegnet.

Im Mai 2017 hast du eine Bildungspetition gegen einen fragwürdigen Englischtest gestartet. Sie gilt als eine der erfolgreichsten Bildungspetitionen Deutschlands. Der Test wurde revidiert. Wie hat es sich angefühlt, etwas bewirken zu können? 

Ich erinnere mich, ich bin völlig frustriert nach Hause gegangen. Als 16-Jähriger hatte ich noch keine Ahnung von Petitionen. Ich habe eigentlich nur meinem Ärger Luft machen wollen und habe diese Petition geschrieben. Nach vier Stunden waren die ersten zehntausend Unterschriften da. Wenn man sich zusammen tut und laut wird, kannst du was verändern. Das ist für mich bis heute ein großer Motivationsschub.

 

Wir müssen endlich in allen Talente sehen und diese fördern.

Du schreibst: „Demokratie muss grundlegend Einzug in den Schulalltag finden.“ Wie könnte das aussehen?

Mitbestimmung und demokratische Werte wie beispielsweise Petitionen sind wichtig. Petitionen sind ja ein Grundrecht. Wie kann ich mich für meine Überzeugungen einsetzen? Das sollte stärker in den Mittelpunkt rücken. Im Unterricht wird dieses Wissen nicht vermittelt. Dieses Wissen wird aber enorm wichtig sein, gerade für meine Generation, damit wir eine demokratische Generation werden. Gerade in diesen Tagen merken wir, wie wichtig Frieden ist. Und das Diskutieren in einem demokratischen Rahmen, das braucht einen deutlich höheren Stellenwert in der Schule.

Die Bildungsinitiative „Schule muss anders“ fordert: Diskriminierung bekämpfen. Kolleginnen von mir, die ein Hijab tragen, dürfen nur an Privatschulen ihren Beruf ausüben und ich habe an verschiedenen Schulen erlebt, dass Schüler:innen of Color auffällig oft von einem Studium abgeraten wird. Haben wir ein Rassismusproblem an deutschen Schulen?

Ich glaube, dass wir das Thema Vielfalt und Toleranz, ähnlich wie den Bereich Demokratie, deutlich mehr in den Unterricht integrieren müssen. Unsere Welt lebt von Vielfalt. Das muss in Schule und vor allem in Schulmaterialien wie in Schulmedien besser rüberkommen.

Du schreibst, dass die Mehrheit der Akademikerkinder studieren gehen (74 Prozent), während es nur 21 Prozent von Nichtakademikerkindern an die Unis schaffen. Was sagt das über unsere Gesellschaft aus?

Bildung ist nicht fair, sie ist vor allem abhängig vom Elternhaus, aus dem ein Kind stammt. Das ist für eine Nation wie Deutschland ein Armutszeugnis! Wir müssen endlich in allen Talente sehen und diese fördern. Es ist eine Schande, dass viele dieser Talente auf der Strecke bleiben, weil die entsprechenden Eltern ihre Kinder nicht fördern können wie andere. Auch hier spielt Vielfalt wieder eine große Rolle!

Ich habe einen WLAN-Router privat anschaffen müssen, damit meine Schüler:innen googeln können. Die digitale Aufrüstung läuft schleppend. Nur 20 Prozent der Gelder aus dem Digitalpakt wurden bisher ausgegeben. Wer hat da seinen Job nicht gemacht? 

Wir kommen beim Digitalpakt nicht voran, weil wir uns in Bürokratie verzetteln. Schulen müssen viele Anträge stellen und fertige Konzepte vorweisen, damit Geld fließt. Wir müssen Schulen mehr zutrauen und mehr Freiheiten geben. Es ist ja auch nicht so, dass die Verwaltung ihren Job nicht richtig macht. Das ist ein Riesenapparat, superaufgebläht mit sehr vielen Stationen, vor allem auch, was den Digitalpakt anbelangt. Die Bürokratie wird dadurch nicht weniger.

Während unsere Berliner Unis zu den besten der Welt zählen, versagen unsere Berliner Schulen auf ganzer Linie: Mehr als 10 Prozent verlassen die Schule ohne Abschluss und jede:r fünfte Schüler:in ist wegen mangelnder Rechen- und Lesekompetenz nicht berufsbildungsfähig. Können digitale Apps helfen?

Lernplattformen sind natürlich nicht das Allheilmittel. Sie können dennoch viel differenzierter lehren, weil Technologien sich dem Lerntempo und auch dem Wissensstand anpassen können und dementsprechend fördern und fordern können. Das kann ein Schulbuch nicht leisten.

Du bist nun für die digitale Lernplattform „Smartclub“ angeheuert worden. Da werden in kurzen Videos und Spielen erklärt, wie zum Beispiel Bruchrechnen geht. Ist das die Zukunft?

Der Begriff „Spiele“ würde das Ganze falsch darstellen. Wir sind Deutschlands größter Bildungsanbieter, wenn es um Lern-Apps geht, und setzen seit einigen Jahren professionell um, was Schule, Ministerien und Politik halbgar versuchen: digitale Bildung. Wir haben über 130 Mitarbeiter, unsere Inhalte werden von Experten erstellt und von Lehrkräften empfohlen. Wir sind schon jetzt ein wichtiger Bestandteil von Schule. Leider noch viel im Nachmittagsbereich, das muss sich ändern.

Neben Simpleclub sind auch StudySmarter und für Grundschulen die App Anton sehr beliebt. Ich finde sie als Lehrer überwiegend überzeugend. Doch scheint mir, sie werden eher für die Nachhilfe benutzt. Warum kommen diese Apps nur zaghaft im Unterricht zum Einsatz?

Weil sich Politik sehr schwertut, private Bildungsanbieter in den Schulalltag mit einzubinden. Das ist grundlegend falsch! Schulbuchverlage sind am Ende genau dasselbe: private Anbieter von Inhalten. Diesen Wettbewerb um digitale Möglichkeiten wünsche ich mir, auch wenn es um Ed-Techs geht.

Sollten wir Bildung also privaten Unternehmen überlassen? In dem Werbevideo sagen die beiden Smartclub-Gründer in cooler und lässiger Art, dass man mit der kostenlosen Mitgliedschaft zwar die Erklärvideos schauen könne, aber wer Geld zahle, wird einfach bessere Noten schreiben. Widerspricht das nicht deiner Überzeugung, dass Bildung keine Frage des Geldes sein soll?

Viele Menschen fragen, warum die App überhaupt Geld kostet. Das ist für mich eine banale Diskussion. Schulbücher kosten auch Geld. Wir produzieren extrem hochwertige Inhalte, diese müssen am Ende schlichtweg auch finanziert werden.

Ja stimmt. Ich erinnere mich an keine Debatte, wo wir Lehrpersonen versucht hätten, Schulbücher aus dem Klassenzimmer zu verbannen.

Man arbeitet da mit zweierlei Maß. Schulbuchverlage sind auch wirtschaftlich denkende Unternehmen. Da ist es völlig normal, dass es einen Wettbewerb gibt, dass Schulen entscheiden können, welchen Anbieter sie nehmen. Das gibt es für digitale Bildungsanbieter gar nicht. Dafür arbeite ich, dass Schulen sich digital öffnen und digitale Bildungssoftware für alle Schüler anschaffen. 

Viele meiner Kolleg:innen lehnen Handys und Internet im Unterricht ab. Sie sehen im Internet mehr Risiken als Chancen. Woher kommt das?

Die Angst vor Technik kommt daher, weil keine Einführung stattfand. Wir sind ja mit Social Media und digitalen Medien aufgewachsen. Wichtig ist: Es geht nie darum, die Lehrer:innen zu ersetzen. Aber wir sollten den Haufen an Büchern ersetzen und die digitalen Möglichkeiten nutzen.

Angespornt durch dein Buch habe ich überlegt, wieder an die Uni zu gehen, um Sonderpädagogik zu studieren. Doch die Anforderungen an der Humboldt-Universität sind so hoch, dass ich keine Chance habe. Meine Diplomnote von 2,0 reicht nicht aus und meine Berufserfahrungen werden nicht anerkannt.

Das zeigt das schlimme System der Bewertungen und das Rasterdenken. Vor allem ist es selten dämlich, weil wir ja superviele Sonderpädagog:innen benötigen. 

Du studierst Recht und Politik. Nicht auf Lehramt. Schade, dass du kein Lehrer wirst. Ich habe gehört, da gibt es einen Fachkräftemangel.

Ich habe mich dagegen entschieden, Lehrer zu werden. Ich denke, ich würde da zu viel verändern wollen. Wie geht es dir denn damit? Hasst du es manchmal auch, dass du Dinge machst, die du total anders machen wollen würdest?

Ich bin vom Lerneffekt von Hausaufgaben nicht überzeugt. Deshalb gibt’s bei mir kaum Hausaufgaben. Außerdem ziehe ich die Schüler:innen bei ihrer Benotung zurate. Beides sehen meine Kolleg:innen nicht gern.

Es ist sehr frustrierend, weil es so wenig vorangeht. Es braucht mehr Leute wie uns, um das Thema anzuschieben. Man darf nie aufgeben.

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Van Bo Le Mentzel ist Architekt, Lehrer, Journalist, Autor, Filmemacher und hat schon viele Projekte ins Leben gerufen. Unter anderem die Karma Chakhs, die tinyhouse University oder die HartzIV Möbel.

Foto: ©Caroline Prange

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