Hameed Khasawnih, Über den Tellerrand

Wie erlebst du Demokratie, Hameed Khasawnih?

Wir fragen regelmäßig Menschen mit diversem Hintergrund, wie er:sie die Demokratie erleben.

Vorwort von Linda Lengler: 

Wir fragen regelmäßig Menschen mit diversem Hintergrund, wie er:sie die Demokratie erlebt. Hier erzählt Hameed Khasawnih. 2015 kam er aus Jordanien nach Berlin, um zu studieren. Nach seinem Studium arbeitete er für die gemeinnützige Organisation Über den Tellerrand, wo er auch unsere Herausgeberin Linda kennenlernte. 

Wir möchten darauf hinweisen, dass wir uns bewusst dazu entschieden haben, die Texte zu dieser Frage, nicht zu lektorieren. Wir möchten ein Bewusstsein dafür schaffen, dass es keinesfalls selbstverständlich ist, deutsch zu sprechen, geschweige denn zu schreiben. Hameed macht den ersten Schritt und wir sind ihm sehr dankbar. Es geht und nicht darum, die Autor:innen zu dieser Frage in ihrer Sprachkompetenz zu degradieren. Ganz im Gegenteil: Wir sind stolz und freuen uns, dass wir zeigen dürfen, wie die deutsche Sprache erlernt wird. 

Wie erlebst du Demokratie, Hameed Khasawnih?

Ich lebe seit über sechs Jahren in Berlin. Hier habe ich meine Masterstudium absolviert und seit vier Jahren arbeite ich hier. Ich habe in fünf Wohnungen gelebt, beste Freund:innen und meine Partnerin kennengelernt, die deutsche Sprache gelernt, Corona erlebt, Trump kommen und gehen sehen, ich bin Patenonkel geworden und alle Details dazwischen. Ich kann mit Sicherheit sagen, dass Berlin im Moment, wenn auch vielleicht nicht auf lange Sicht, mein Zuhause ist. Und in diesen Moment hinein wurde ich gefragt, wie ich Demokratie erlebe.

Demokratie beinhaltet politische Teilhabe und Partizipation. Diese Elemente sind der Kern des Demokratiebegriffs. Leider sind diese Elemente nur für deutsche Staatsbürger:innen vorhanden. Als ich gefragt wurde, wie ich Demokratie erlebe, klang diese Frage für mich komisch. Ich habe mich direkt gefragt: Erlebe ich überhaupt Demokratie? Und die Antwort ist klar: Ohne politische Rechte, gibt es keine Demokratie.

"Ich lebe zwar in einer sogenannten Demokratie, meine Teilnahme ist aber nicht erwünscht."

Nicht nur bei Wahlen ist mein Beitrag nicht willkommen. Seit kurzem hat das Bundesverfassungsgericht bedauerlicherweise entschieden, dass der Mietendeckel in Berlin ungültig ist [Anmerkung der Redaktion: Der Artikel erschien zum ersten Mal in der Print-Ausgabe des DEMOS MAG im August 2021.]. Und hier kann man schon fragen, ob so ein Einflussunterschied zwischen Mieter:innen und Vermieter:innen und die daraus folgenden Regeln und Entscheidungen, die das Interesse der Vermieter:innen immer mehr in den Vordergrund gestellt haben, Ergebnisse einer funktionierenden Demokratie sind.

Trotzdem ist es schön, das politische Engagement von vielen Organisationen und Einzelpersonen in Berlin zu beobachten. Die Bewegung, die nach der Entscheidung bezüglich des Mietendeckels entstanden ist, war großartig. Es wurde unter anderem eine Petition ins Leben gerufen, die fordert, große Wohnungskonzerne zu enteignen. Ein wunderbares Beispiel dafür, wie die Zivilgesellschaft in Berlin ihre Demokratie und Rechte zurückgewinnen will. Das Mindeste, was man tun kann, ist die Petitionen zu unterschreiben. Wie alle um mich herum wollte ich das sofort machen. Als ich den Petitionstext gelesen habe, habe ich aber festgestellt, dass nur Personen, die vom Wahlrecht nicht ausgeschlossen sind, die Petition unterschreiben können. Es war mal wieder klar, dass ich zwar in einer sogenannten Demokratie lebe, meine Teilnahme aber nicht erwünscht ist, weder auf Bundesebene noch auf lokaler Ebene.

"Es ist ein Verlust für alle, dass unsere Partizipation in der politischen Sphäre nicht erlaubt ist."

Demokratie beruht auf dem Grundsatz, dass nur ein partizipativer Entscheidungsprozess für diejenigen, die von einer Entscheidung betroffen sind, zu einem fairen und gerechten Ergebnis führt. Das ist richtig und meine und andere Erfahrungen zeigen, dass unser Ausschluss zu einem Mangel an Rechten und an Repräsentation führt. Aber ich glaube, dass die ausgeschlossene Gruppe nicht die einzige ist, die etwas zu verlieren hat. Die Schönheit der Demokratie ist, dass die Einbeziehung der vielen zu besseren Ergebnissen für alle führt. Diversität in Kompetenzen, Perspektiven und Lebenserfahrungen ist eine wertvolle Sache. Wir teilen unsere diversen Ideen und Beiträge schon an unseren Arbeitsplätzen, bei ehrenamtlichem Engagement und vielen Nachbarschafts- und zivilgesellschaftlichen Institutionen, die uns willkommen heißen. Das Ergebnis sind reichere, buntere und kreativere Ideen, Lösungen und Perspektiven. Durch Diversität kriegen wir bessere Ergebnisse – für alle. Es ist ein Verlust für alle, dass unsere Partizipation in der politischen Sphäre nicht erlaubt ist.

In einer globalisierten Welt gibt es für Gesellschaften wie unsere, in denen viele Einwohner:innen keine Staatsbürger:innen sind, etwas zu befürchten. Entweder wir bewegen uns immer mehr in Richtung unterschiedliche Bürger:innenklassen oder wir bewegen uns in Richtung Demokratie und Teilhabe. Hier sollten wir genau schauen, welche Werte wir leben wollen. Sollte unsere Beziehung zueinander auf Vertrauen und Kooperation oder auf Misstrauen und Ausgrenzung beruhen? Wir sollten uns fragen, was für eine Gesellschaft wir zusammen erleben wollen.

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