Wahlrecht für jede:n?
Wo die Gleichberechtigung in Deutschland endet
Deutschland ist ein Einwanderungsland. Von den rund 82 Millionen Einwohner*innen, leben aktuell ca. 2,5 Millionen mit einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland. Was diese Gruppe verbindet? Sie haben kein Wahlrecht. Das heißt, jedes Mal, wenn in Deutschland gewählt wird, werden Menschen ausgeschlossen, die hier leben und die sich eine Existenz aufgebaut haben. Der Grund? Sie besitzen eine ausländische Staatsbürgerschaft.
Einer von ihnen ist Hüseyin Çomak. Hüseyin lebt seit über 30 Jahren in Deutschland. Der 55-jährige Geschäftsmann ist verheiratet, hat zwei in Deutschland geborene Kinder und besitzt eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung. Mit seiner Bäckerei sichert er aktuell 13 Personen einen Arbeitsplatz. Er bereichert den Ort, in dem er lebt, mit deutschen und türkischen Backwaren. Wählen darf er trotzdem nicht, weil er seine türkische Staatsbürgerschaft noch besitzt. Die Türkei ist seine Heimat. Dort ist er geboren, da zieht es ihn auch irgendwann sicher wieder hin. Und trotzdem hat er sein Arbeitsleben hier verbracht, hat Steuern gezahlt und auch sonst einen Beitrag zum Funktionieren der Gesellschaft geleistet.
Auch Minderjährige oder Menschen mit Behinderungen, deren Angelegenheiten vollumfänglich von einer betreuenden Person erledigt werden, sind nicht wahlberechtigt (die Ausnahme sind Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein, dort dürfen behinderte Personen uneingeschränkt wählen). Ausländer:innen – unabhängig davon, wie lange oder unter welchen Umständen sie in Deutschland leben, werden ebenfalls bei Wahlen ausgeschlossen. Darüber hinaus dürfen Staatsangehörige der EU-Länder seit 1992 nur auf kommunaler Ebene wählen. Die Gruppe der Menschen, die nicht wählen dürfen, und somit von der politischen Teilhabe ausgeschlossen werden, ist also insgesamt recht groß.
Allein bei den vergangenen Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen (NRW) betraf das rund 15 Prozent der Volljährigen – 262.140 davon sind sogar in Deutschland geboren und nach dem „Mediendienst Integration“ lebt der Anteil der Menschen mit Aufenthaltsgenehmigung in Nordrhein-Westfalen ähnlich wie Hüseyin seit über 20 Jahren in Deutschland. Auch in Niedersachsen zeigte sich dieses Bild. Bei der Landtagswahl am 9. Oktober waren es circa 660.000 Menschen, die nicht wählen durften. Das bedeutet unterm Strich, dass etwa zehn Prozent der Bevölkerung des Bundeslandes kein politisches Mitspracherecht hatten. Bei näherer Betrachtung fällt vor allem eines auf: Diese Menschen müssen Steuern zahlen und arbeiten, sie kämpfen genauso um ihre Existenz, fühlen sich mit dem Land verbunden, wie andere auch. Und obwohl die Politik über viele Aspekte entscheidet, von denen sie ebenso betroffen sind, haben sie keine Möglichkeit, ihre Stimme bei Wahlen einzubringen. An die Pflichten sind sie gebunden, doch wenn es um Rechte geht, klafft eine Lücke.
Über sie entscheiden, statt mit ihnen?
Mit der Entscheidungen, jenen beschriebenen Personengruppen das Wahlrecht zu verwehren, grenzt man sie bewusst aus und schafft eine Klassifizierung: Da stehen auf der einen Seite „die Ausländer:innen“, auf der anderen Seite die, die etwas zu sagen haben. Aber das ist nur ein Aspekt. Zu dem kommt, dass viele Menschen, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben, Alltagsrassismus ausgesetzt sind. Aber anstatt sie über Regelungen, die sie betreffen, mitentscheiden zu lassen, dürfen jene Personen, die sich ihnen gegenüber rassistisch verhalten, über sie entscheiden. Ein Beispiel dafür ist die Regelungen zur Abschiebung, die besagt, dass Personen (unabhängig vom Status) in das Land ihrer Staatsangehörigkeit abgeschoben werden können. Nicht selten kommt es vor, dass Menschen in ein Land abgeschoben werden, in dem Krieg herrscht und wo ihnen der Tod droht. Auch das betrifft Menschen, die seit vielen Jahren in Deutschland leben oder sogar hier geboren sind.
Der Fall der Familie Nguyen/Pham
Eines der jüngsten Beispiele dafür ist die seit Jahrzehnten in Deutschland lebende Familie Nguyen/Pham. Der Familienvater Pham Phi Son wurde vor über 35 Jahren als DDR-Vertragsarbeiter in den Osten Deutschlands geholt. Im Jahre 2017 kam seine Tochter Emilia zur Welt. Pham Phi Son besaß eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Der Grund für seine drohende Abschiebung ist, dass er sich im Jahre 2016 mehr als sechs Monate in Vietnam aufhielt. Dieser verlängerte Aufenthalt war allerdings nicht geplant: Eine ärztliche Behandlung verzögerte die Rückkehr nach Deutschland. Ein Umstand, den in Deutschland ausgestellte ärztliche Atteste sogar bestätigen. Dennoch lehnten das Verwaltungsgericht Chemnitz sowie die Härtefallkommission das Bleiberecht der Familie ab. Zudem wurde ihnen die Arbeitserlaubnis entzogen, sodass sie fortan auf die finanzielle Unterstützung von Bekannten angewiesen sind. Im Rahmen der Vorbereitungen für die Abschiebung wird auch eine Familientrennung nicht ausgeschlossen. Der Artikel 6 des Grundgesetzes sichert den Schutz der Familie zu – gilt er etwa nicht für Familien mit einer ausländischen Staatsbürgerschaft, obwohl sie Teil der Gesellschaft sind? Wie kann es sein, dass Menschen, die sich in Deutschland über Jahrzehnte eine Existenz aufgebaut haben, derart übergangen werden? Der Fall der Familie Nguyen/Pham, der im August 2022 in den Medien für Aufsehen sorgte, legt nicht nur den Finger in die Wunde, sondern verängstigt viele Migrant:innen.
Abgrenzung zum Schutz
Das Problem, das daraus erwächst, ist, dass Menschen mit Migrationsgeschichte sich häufig bewusst abgrenzen, um eine Art „Safe Space“ zu erhalten, mit der Folge, dass man ihnen vorhält, nicht „deutsch genug“ zu sein. Doch wie sollen sie sagen können, dass sie deutsch sind, wenn sie bei so einem wichtigem Punkt wie dem Wahlrecht ausgegrenzt werden? Egal wie lange sie in Deutschland leben, wie gut sie deutsch sprechen, oder welchen Abschluss sie haben – sie gehören nicht dazu. Mehr noch: Sie erleben tagtäglich Rassismus im Alltag (auf dem Arbeitsmarkt, in Schulen, bei der Wohnungssuche etc.). Einen Alltagsrassismus, der ihnen manchmal gar nicht bewusst ist oder den sie verharmlosen. MikroaggressionAuch wenn der Begriff dies suggeriert, ist Mikroaggression nicht klein. Hierbei handelt es sich um Äußerungen in der alltäglichen Kommunikation, die sich bewusst oder „unbewusst“ auf die Gruppenzugehörigkeit einer Person beziehen. Dies kann sowohl „Woher kommst du?“ als auch „Du sprichst aber gut deutsch“ sein. Dementsprechend ist Mikroaggression eine Form des Rassismus. wie: „Du siehst aber gar nicht deutsch aus“ oder „Wo kommst du eigentlich her?“
Deutschland ist ein Einwanderungsland und über die Grenzen hinaus für seine Vielfalt, für Gleichberechtigung und eine demokratische Politik bekannt. Ist es da nicht an der Zeit, auch Menschen wie Hüseyin oder die Familie Nguyen/Pham zu Bürgern „erster Klasse“ zu machen?
Quellen:
- https://de.statista.com/statistik/daten/studie/72304/umfrage/auslaendische-bevoelkerung-nach-aufenthaltsrechtlichem-status/
- https://praxistipps.focus.de/wahlberechtigung-wer-darf-in-deutschland-nicht-waehlen_134572
- https://mediendienst-integration.de/artikel/wer-in-nrw-nicht-waehlen-darf.html
- https://mediendienst-integration.de/artikel/migration-und-politische-teilhabe-in-niedersachsen.html
- https://www.saechsischer-fluechtlingsrat.de/de/2022/08/19/online-petition-nach-35-jahren-in-sachsen-familie-pham-nguyen-muss-bleiben/
- https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/pocket-politik/16391/demokratie/
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