Digitales Brücken-Bauen

Der Ton öffentlicher Debatten in Deutschland wird rauer, das Diskursklima verändert sich. Das setzt unsere Demokratie unter Druck. Was sind die Gründe dafür und wie kann ein guter Diskurs im Sinne unserer Demokratie gelingen?

„Noch nie in der Menschheitsgeschichte gab es solche Möglichkeiten zur freien Meinungsäußerung. Noch nie waren die Nachteile der schrankenlosen, freien Meinungsäußerung so leicht über alle Grenzen zu verbreiten“, erklärt der Medienrechtler Karl-Nikolaus Peifer in einem Vortrag an der Universität Köln. 

Meinungsfreiheit ist in Deutschland im Grundgesetz festgeschrieben, wird jedoch auch eben dort eingeschränkt. Das ist gut so. Denn wer in Deutschland beispielsweise den Holocaust leugnet, andere Menschen beleidigt oder Gewalt verherrlicht, kann dafür vor Gericht bestraft werden. Hier liegt die juristische Grenze des Sagbaren. Es gibt jedoch eine weitere Grenze, die weniger scharf verläuft. Diese Grenze wird im gesellschaftlichen Diskurs verhandelt. Sie verschiebt sich mit dem Wandel der Gesellschaft und ist mit ausschlaggebend dafür, auf welche Art und Weise etwas von wem geäußert wird.

Anstelle der strafrechtlichen Konsequenz tritt beim Überschreiten dieser gesellschaftlichen Grenze dann die Konsequenz der weitreichenden gesellschaftlichen Empörung, umgangssprachlich auch Shit Storm genannt. Dies empfindet manch einer als Zensur. „Dieser Zensurbegriff ist in der Internetzeit besonders schillernd und leider auch ein bisschen konturenlos geworden“, sagt Peifer. Denn mit Zensur sei, zumindest im Grundgesetz, eigentlich eine von staatlicher Stelle ausgeübte Vorzensur der Äußerung einer Meinung gemeint. Somit ist, juristisch gesehen, der Vorwurf der Zensur in den meisten Fällen unbegründet. Doch da Meinungsfreiheit nicht nur durch Gesetzestexte, sondern naturgemäß durch alle Teilnehmenden eines Diskurses kontrolliert und organisiert wird, ist, wenn dieser Vorwurf geäußert wird, oft eine andere Art von Zensur gemeint. Es ist die Angst, etwas nicht mehr sagen zu dürfen, ohne mit Konsequenzen oder gar sozialem Ausschluss rechnen zu müssen.

Einfach blockieren?

Ein Blick auf Plattformen wie YouTube oder Instagram, die neuerdings eine, wenn nicht sogar die Arena des öffentlichen Diskurses bilden, wirft jedoch die Frage auf, ob diese Art von Ausschluss heute überhaupt noch möglich ist. Einige wenige müssen freilich ohne öffentliche Plattform auskommen. Etwa Donald Trump, dessen Account mittlerweile nicht nur auf Twitter und Facebook, sondern auch auf YouTube und Snapchat gesperrt ist. Im deutschsprachigen Raum wäre die Blockade von Attila Hildmann auf Telegram ein prominentes Beispiel. Von gewissen Fällen aber einmal abgesehen hat sich die Möglichkeit zur Teilnahme am öffentlichen Diskurs in den letzten Jahrzehnten für die meisten Menschen vereinfacht – und die Debattenbeiträge sich dementsprechend vervielfacht. 

Viele sehen darin etwas Positives: Durch das Netz ist das Potenzial, die eigenen Sichtweisen schnell zu verbreiten und potenziell einem Millionenpublikum zugänglich zu machen, heute für sehr viel mehr Menschen gegeben – auch ohne die klassischen Massenmedien Rundfunk, Zeitung oder Fernsehen. Meinungen von Minderheiten, die zuvor aus der Organisation des öffentlichen Diskurses ausgeschlossen waren oder nur eine leise Stimme hatten, treten nun stärker hervor; die Meinungsvielfalt steigt.

Grafik: ©Kathrin Königl

Das hat aber nicht nur demokratisierende Konsequenzen: Denn die Debattenräume im Netz werden immer kleiner, der Diskurs somit fragmentierter und unübersichtlicher. Die Gesellschaft treibt auseinander; jede:r findet im Netz seinesgleichen; die Auseinandersetzung mit Andersdenkenden kann dabei ausgespart werden. Doch die vernetzte Welt macht „den Filterclash (…), das Aufeinanderprallen von Parallelöffentlichkeiten und Selbstbestätigungsmilieus“ auf lange Sicht unvermeidbar, erklärt der Medienprofessor Bernhard Pörksen in dem Buch „Die Kunst des Miteinander-Redens“. 

Während der gesellschaftliche Diskurs in immer kleinere Räume zerfällt, werden die Nutzer:innen mit immer extremeren Positionen konfrontiert. Das liegt insbesondere an der Architektur der Plattformen, deren Rolle in diesem Vorgang mitnichten passiv ist. Stattdessen nehmen sie, wie auch andere Massenmedien, eine aktive Rolle in der Debattengestaltung ein. Ihr Geschäftsmodell ist dafür verantwortlich, dass Inhalte, die Nutzer:innen länger auf der Plattform halten, stärker verbreitet werden als Inhalte, die dies nicht tun. Das Ergebnis ist eine hohe Viralität von besonders emotionalisierenden Beiträgen, die in die Feeds der Nutzer:innen gespült werden und mit deren Interaktion die Plattform-Algorithmen mit Feedback gefüttert werden. Den Nutzer:innen werden somit grundsätzlich mehr Inhalte angezeigt, die emotionalisieren und dementsprechend auch radikalere Ansichten beinhalten. Die Konfrontation mit extremen Meinungen ist so gesehen Teil des Deals, den man bei der Nutzung von digitalen Debattenräumen eingeht.

Diese Polarisierung des Diskurses zieht tiefe Gräben durch die Gesellschaft. Insbesondere bei so genannten „Kontaminationsbegriffen“. So bezeichnen die Macher der Online-Plattform diskursmonitor.de, die Aufklärung und Dokumentation von strategischer Kommunikation betreiben und aus einer Forschungsgruppe der Universität Siegen bestehen, Themenfelder wie Rassismus, Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit oder auch Verschwörungstheorien. Diese würden „im Gebrauch ausgeweitet“ werden und zum Teil zum Ausschluss bestimmter Nutzer:innen aus der Debatte führen. Die Forscher:innen erkennen darin die Einstellung „Mit Rassisten und Antisemiten diskutiert man nicht, man schließt sie aus, nachdem man sie als solche identifiziert hat“. Doch wer darf aus der mehrheitlichen Meinungsbildung ausgeschlossen werden, ohne dass sich die Gesellschaft dadurch weiter spaltet? 

Es gibt Personen, die den Ausschluss bestimmter Stimmen in bestimmten Situationen richtig finden. Etwa, wenn diese gezielt und organisiert Hass und Hetze verbreiten – und an einer echten Debatte überhaupt nicht interessiert sind. Denn die heutige Plattformarchitektur bietet einen Nährboden für digitale Gewalt und diese Flut an nutzergenerierten Inhalten ist für die Plattformen kaum noch händelbar. Hinzu kommt die Anonymität, die bei vielen die Hemmschwelle sinken lässt. Die Journalistin Kübra Gümüşay spricht in ihrem Buch „Sprache und Sein“ in Bezug auf besonders polarisierende Themenfelder wie Rassismus oder Feminismus von gezielten Provokationen bestimmter Gruppen, deren Aussagen legitimiert werden und gesellschaftliche Relevanz erhalten, wenn darauf ausgiebig reagiert wird. 

Ob Reaktion oder nicht: Der digitale Hass hat reale Auswirkungen: Aktuell werden die Beispiele an Frauen, die in der (digitalen) Öffentlichkeit stehen und massiven Anfeindungen ausgesetzt sind, zahlreicher. Die Influencerin Louisa Dellert gab vor kurzem bekannt, sich unter anderem wegen der vielen Hassnachrichten und Gewaltandrohungen, die sie über Instagram erreichen, zeitweise zurückzuziehen. Als Selbstständige sucht sie sich regelmäßig Unterstützung bei der Organisation HateAid, der einzigen Beratungsstelle für Opfer digitaler Gewalt in Deutschland. Die Organisation hilft Leuten wie ihr dabei, die Täter anzuzeigen und vor Gericht zu bringen, und betreibt gleichzeitig Lobbyarbeit in Brüssel für stärkere Plattform-Regulierungen.

Aber auch andere sind betroffen: DRIVE beta, eine Produktionsfirma aus Berlin, gab vor kurzem bekannt, dass zwei der drei Macherinnen des TikTok-Formats „mitreden“ aussteigen. Zuvor hatte es massive Anfeindungen gegen sie gegeben. Doch die Produktionsfirma hat aus ihrer Erfahrung gelernt. „Es ist wichtig, zwischen offenem Hate, mit dem man nicht interagieren sollte, und konstruktivem Feedback und Kommentaren zu trennen“, sagt der Geschäftsführer Hannes Jakobsen. Für Ersteres nutzt die Firma den vollen Handlungsspielraum des Community Managements, den TikTok bietet. Diese Art der Kommentare werde konsequent ignoriert und in besonders krassen Fällen auch gelöscht oder an TikTok gemeldet, erklärt Friederike Schiller, die das Projekt bei DRIVE beta federführend betreut. Mittlerweile fokussiere man sich auf Leute, die konstruktiv kommentieren. Außerdem werde stärker darauf geachtet, dass die Meinungen der Macherinnen klar als solche gekennzeichnet sind. Schließlich gehe es darum, ein erstes Bewusstsein für die im Format behandelten Themen zu schaffen, statt einen Wahrheitsanspruch aufzustellen. Man sei auch in konstruktiven Gesprächen mit den Plattformbetreibern selbst, die jedoch gegen eingesetzte Bots und bewusst forcierte Kampagnen oftmals machtlos sind.  

Schlussendlich bleibt die Frage, ob eine echte Debatte im Internet überhaupt funktionieren kann. Laut aktuellen Erfahrungen derer, die es versuchen, ist dies bei besonders kontroversen Themen und in einer besonders heterogenen Community kaum möglich. Eine liberale Demokratie lebt jedoch davon, dass ihre Bürger:innen miteinander sprechen und Toleranz füreinander aufbringen. Denn wer nicht miteinander spricht, kann einander auch nicht verstehen. Natürlich gilt es dabei, die Legitimation von gewissen Positionen und dem Willen zur Verständigung auszuloten. Was zu tun ist, wenn der Wille zu einer echten Auseinandersetzung mit der Meinung des Gegenübers erkennbar ist, bringt Medienprofessor Bernhard Pörksen mit schönen Worten auf den Punkt: Wir sollten versuchen, „Ideen und Vorstellungen erst einmal zu verstehen und je nach Situation und eigener Rolle das Wagnis des kommunikativen Brückenbaus einzugehen“ – auch im Netz.

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Laura Bäck ist studierte Medienwissenschaftlerin. Durch ihren Beruf in der Medienbranche in Köln, als Wissenschaftlerin, aber auch privat ist Laura fasziniert davon, welche Rolle Medien im Leben von Menschen, für die Meinungsbildung und für gesellschaftliche Machtstrukturen spielen.

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