Digital (Body) Empowerment

Nir de Volffs Tanz für Vielfalt und Frieden

Der Tänzer und Choreograf Nir de Volff startete Mitte September die Plattform „Everybody dance now Germany 2022“, um sich für die Akzeptanz aller Körper, unabhängig von Form, Alter, Gender und Nationalität, einzusetzen. Seine israelisch-jüdische Herkunft war für ihn anfangs kein Thema.

Everybody dance now Germany 2022 ©Emilien-Yespictures

Nir de Volff wuchs in Israel auf, wo er nach seiner Tanzausbildung an der Bat Dor Dance Company in Tel Aviv und drei Jahren Wehrdienst in verschiedenen Kompanien sowie in Pina Bauschs Gastspiel „Viktor“ tanzte. Um sich künstlerisch weiterzuentwickeln, zog er nach Amsterdam, machte kurzzeitig Station in Brüssel, schließlich fand er 2003 in Berlin seine Wahlheimat. Mit seinem Großvater, der das Konzentrationslager in Bergen-Belsen überlebt hatte und zu dem er bis zu seinem Tod mit 99 Jahren (2015) ein sehr gutes Verhältnis pflegte, sprach er aus Respekt nie über seinen Umzug nach Deutschland. 

Die israelisch-jüdische Herkunft schwingt mit

In Berlin wollte de Volff anfangs einfach nur einer von vielen Künstler:innen sein, „der irgendwo auf diesem Kontinent seine Kunst entwickelt, tanzt und choreografiert“, erklärt er. „Aber danach merkte ich: Sogar, wenn ich nur abstrakten Tanz machen würde, würden viele Zuschauer:innen auf mich als Jude, als Israeli schauen. Je länger ich hier bin, umso mehr denke ich über meine politische Identität nach.“

2007 interpretierte der Wahlberliner in „3Some“, dem ersten Stück seiner Kompanie „Total Brutal“, Völkerverständigung auf seine Art und Weise. Im ersten Teil sinniert er über nationale und private Scham und setzt sich im Duett mit dem Schauspieler Knut Berger in die Badewanne. Er stellt die Frage, ob es letztlich „schlimmer“ ist, Israeli zu sein oder Deutscher. Im zweiten Teil, einer neuen „West Side Story“-Version gemeinsam mit der palästinensischen Tänzerin Sahara Abu Gosh, hinterfragt er, wie nah sich ein israelischer Mann (de Volff) und eine palästinensische Frau (Abu Gosh) mental und körperlich kommen können und wo die Grenzen zwischen Israeli-Mann und Palästinenser-Frau bestehen.

Choreograf Nir de Volff ©Barbara Dietl

De Volff provoziert gerne 

Auch 2009 forderte de Volff mit der Tanztheaterperformance „Action“ das Publikum heraus. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte bespielte er die Neue Synagoge in Berlin-Mitte. Der Choreograf ließ mit Gott als Regisseur einen Film entstehen, in dem jede:r Performer:in einen persönlichen Sündenmoment aus der Kindheit rekreierte. Im Außenbereich, wo einst eine Bombe gezündet wurde, erzählt de Volff zum Beispiel die fiktive Geschichte, wie er einst einen Kindergarten anzündete und dann große Schuldgefühle hegte. „In der Show wollte ich Gott kritisieren, der uns nicht hilft, wenn wir ihn brauchen, weil es ihn nicht gibt. Selbst in der Synagoge nicht, die heutzutage als Ausstellungsort und nicht als religiöser Ort wahrgenommen wird.“ Von einigen Journalist:innen wurde er kritisiert, weil er als Jude den Holocaust nicht thematisiert hatte.

Danach arbeitete de Volff mit einer Vielzahl an Spielstätten wie der Schaubühne am Lehniner Platz, dem Gorki Theater, der Oper Frankfurt und dem Thalia Theater in Hamburg zusammen. Außerdem kollaborierte er bereits mit dem Performancekollektiv She She Pop u. a. in der gesellschaftspolitischen „Relevanz-Show“ (2007) sowie mit dem Theaterregisseur Falk Richter, der in „Never Forever“ (2014) über zwanghaften Idealismus in einer vernetzten, einsam machenden Welt nachdachte. 

Anfangs dachte de Volff, Tanz könne nicht helfen

Als 2015/2016 immer mehr Flüchtlinge, unter anderem aus dem Irak, Iran und Syrien, nach Deutschland kamen, ging de Volff zu Treffen mit Flüchtlingen und Helfer:innen. Anfangs wusste er nicht, wie er die Einwander:innen unterstützen könne: „Ich dachte: Tanz hilft da nicht weiter, dann habe ich verstanden, dass Tanz das ist, was am meisten hilft, denn diese Menschen haben körperlich so viel mitgemacht. Sie sind monatelang kilometerweit gelaufen, haben ihre Häuser hinter sich gelassen, teilweise ihre Familie verloren und ihre Körper haben all diese traumatischen Erfahrungen gespeichert.“ Für de Volff, der die Methode Breathing Bodies Movement (BBM) entwickelte, beginnt Befreiung in der Atmung. Anfang Januar wird er wieder einen Workshop dazu anbieten.

„Wichtig ist, dass wir lernen, unseren Körper mit unserer Atmung zu verbinden, damit ein symbiotisches System entsteht.“ Für den Tänzer bilden körperliche Energie, Gehirn und Emotionen eine Dreiheit. Gerne blickt de Volff über den Tellerrand hinaus. Kürzlich bot er gemeinsam mit der bildenden Künstlerin Moran Sanderovich einen dreiwöchigen Workshop über Traumata an. Aus ihren Emotionen heraus kreierten sie Skulpturen und eine Performance mit Silikon, Stoff und Latex. Die Ergebnisse präsentierte de Volff Anfang Oktober gemeinsam mit den Teilnehmer:innen, dem Musiker Yaniv Schonfeld und Sanderovich im Kunstverein KunstHaus Potsdam „Es war ungewohnt für mich, in die Schwere und Langsamkeit zu gehen. Für mich war das der Beginn einer neuen Sprache. Ich habe gelernt, wie man Atmung, Traumata und bildende Kunst in einer kommunikativen, offenen Art miteinander verbindet, ohne das Trauma sprechen zu lassen,“ erklärt er. 

„JOY“ von Forward Dance Company ©Tom Dachs

Der Körper speichert Erfahrungen

Vergangenheit und Gegenwart gehören für de Volff zusammen. „Was wir erlebt haben und wer wir dadurch sind, unsere Beziehungen, Ängste, Traumata und unsere Freude liegen alle in unserem Brustkorb. Ich sehe den Körper wie ein Buch, in das man all seine Erfahrungen und Erlebnisse schreibt. Durch die Atmung aktiviert man den Körper und alles, was in ihm mitschwingt.“ 

Auch bei den Workshops mit Flüchtlingen ging de Volff in die Atmung und in die Bewegung. Als sich die Tänzer Medhat Aldaabal, sein Cousin Mouafak Aldoabl und Amr Karkout aus Syrien der Gruppe anschlossen, suchte de Volff die Begegnung. Er verstand bald, dass zeitgenössischer Tanz ihnen fremd war, und entwickelte in Zusammenarbeit mit den drei Syrern nach und nach das Stück „Come as you are #BERLIN”. Aus 15-minütigen Tanzsolos entstand später eine komplexe, abendfüllende Culture-Clash-Performance über Ängste, Träume und ihre Herkunft. Nebenbei verwebt de Volff darin Depka, syrischen Volkstanz, mit zeitgenössischem Tanz. 2021 entwickelte er gemeinsam mit Medhat, Mouafak und dem Bauchtänzer Haidar Darvish („The Darvish“) einen zweiten Teil, gerade denkt er über einen dritten Teil nach. Seitdem die Syrer vor fast zehn Jahren ankamen, sei viel passiert.

Come as you are #Berlin ©Bernhard Musil

Integration braucht Jahre

„Wenn man so lange in einer Stadt lebt, dann verändert man sich einfach, versteht Zusammenhänge besser und lernt auch sich selbst besser kennen. Heute sprechen Medhat und Mouafak zum Beispiel anders über Deutsche als vor einigen Jahren, als sie gerade erst in Deutschland Fuß fassten.“ Vielleicht sei das der letzte „Come as you are“-Teil, ganz sicher ist sich de Volff aber nicht: „Integration braucht Jahre, selbst ich werde immer ein Einwanderer sein, weil ich meine Wurzeln woanders habe.“

De Volff ist das Verständnis für sein Umfeld sehr wichtig. Aus Gesprächen mit Freund:innen und inspiriert von aktuellen Nachrichten entwickelt er seine Fragestellungen. Vor Tabus scheut er sich nicht. In „Dancing to the End“ (2016) thematisierte er den Blick von Kunst auf den Tod oder ließ beispielsweise mit „Love & Loneliness in the 21 Century“ (2018) gemeinsam mit dem Tänzer Francisco Bejarano Montes de Oca einen wilden, humorvoll-intelligenten 60-Minüter über seine israelische Herkunft, seine eigene Midlife-Crisis, Männlichkeit, Einsamkeit, Religion, Tod und Lebensfreude entstehen. 

Auf verschiedenen Ebenen kämpft de Volff für Vielfalt. 2021 choreografierte er die Stücke „JOY“ und „WIR“ für die „Forward Dance Company“, welche mit Tänzer:innen mit normativen und nicht normativen Körperlichkeiten arbeitet. Auch Mouafak schloss sich den Produktionen an, seitdem arbeitet er für die Company. Für de Volff ist die Botschaft, die er durch Tanz vermitteln will, klar: „Wichtig ist es, dass wir alle lernen, unsere Körper und die Verschiedenheit von Körper, Form, Gender und Nationalität zu akzeptieren. Die kulturelle Landschaft ändert sich und danach kommt die Bewegung langsam in der Gesellschaft an.“

„The beauty of a bloody mess” ©Nir de Volff
„The beauty of a bloody mess” ©Nir de Volff

Nir de Volff setzt sich für Vielfalt ein

Es gäbe viele Theater und Festivals, welche den Vielfaltsgedanken unter anderem in Panels aufgreifen, aber es gäbe keinen zentralen Platz für Tänzer:innen, um diese Vielfalt wirklich zu zeigen. Viele sprechen, so de Volff, „über Diversität und Empowerment, aber ich setze es in die Tat um.“ Um ein Zeichen zu setzen, hat de Volff den Instagramkanal „Everbody dance now Germany 2022“ ins Leben gerufen. Er lädt alle Tänzer:innen ein, zu einer Version des gleichnamigen 90er-Jahre-Hits in lebensfrohem Knallpink zu performen. Den Link zur kostenlosen Downloadversion hat er auf Soundcloud gestellt, die Videos kann man ihm einfach schicken, damit er sie auf Instagram hochlädt. Die ersten Videos stellte de Volff selbst ein, unter anderem ein Bauchtanzvideo von „The Darvish“, das Video einer tanzenden Schwangeren und ein Clip von dem Tänzerpaar Susanne Curtis und Tameru Zegeye. 

Zegeye, der mit zusammengewachsenen Beinen geboren wurde, unterzog sich mehreren Operationen, die Kraft, die in seinen Beinen fehlt, gleicht er mit seinen Armen aus: Er ist Handstandakrobat. Von dem Begriff „Behinderung“ hält de Volff nichts. „In dem Moment, in dem wir vor allem im Tanzjargon von Behinderung sprechen, entkräften wir die Leistung der Tänzer:innen, anstatt sie zu bekräftigen. Ich spreche von sich bewegenden Körpern. Wir bewegen uns alle anders und die Qualität einer Bewegung hängt nicht davon ab, wie hoch wir unser Bein schwingen.“ 

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Susanne Gietl wollte als Kind Meeresbiologin werden. Dann entdeckte sie, dass sie auch als Journalistin in andere Welten und Wissenschaftsgebiete abtauchen kann und wandte sich der schreibenden und sprechenden Zu(ku)nft zu. Gerne entwickelt sie Audioformate und Medienkonzepte. Berlin inspiriert sie, besonders immersive Performances und Interdisziplinarität in Tanz und Theater. Über ihre Erfahrungen berichtet sie u.a. auf ihrem Blog kulturschoxx.de

Foto: © Imada Spiewok

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