Demokratie

Die Demokratie ist in uns

Repräsentant:innen, helft uns graben!

Wo befinde ich mich eigentlich? Ist das gesellschaftliche Individuum überfordert? Und wie geriet die Demokratie durch einen Überstand an Institutionalisierungs- und Ökonomisierungsprozessen als Ideal aus unserem Blickfeld? Eine Spurensuche.

Je älter ich werde, umso mehr Unzufriedenheit nehme ich in meinem unmittelbaren Umfeld wahr. Bei ganz verschiedenen Menschen, zu ganz verschiedenen Themen scheinen die Grenzen immer weiter zu verschwimmen und gleichzeitig zu wachsen. Politische Diskussionen werden hysterisch geführt, die Verrohung der Sprache führt zu einem – nicht einmal schleichendem – Populismus, und schlussendlich war früher bekanntlich alles besser. Ist das so? Verdammt, ich glaube, dass ich die Welt nicht mehr verstehe. Wo befinde ich mich eigentlich und wieso erscheinen mir viele der öffentlich geführten Debatten nicht mehr greifbar genug? Links gegen Rechts, Gendern oder nicht, Gas- und Klimakrise, Kriege, Impfdebatten, Diskussionen um geschlechtsbezogene Aspekte, Donald Trump, Sarah Engels und mittendrin immer wieder der Superexperte für alles: Richard David Precht. Und dann sind da noch die Spitzenpolitiker:innen unserer Zeit: Scholz, Weidel, Baerbock, Habeck, Merz. Die gewählten Repräsentant:innen unserer Demokratie schaffen es, jede:r auf seine/ihre Weise, pathetisch Dinge anzusprechen, scheinbar demokratisch zu ummanteln, so dass sie alle verstehen (oder eben nicht).

©Verena Siggelkow

Sofern dann Themen aber politisiert und schlussendlich auch institutionalisiert werden – gerade in der jüngeren Vergangenheit – wird es dramatisch, unübersichtlich und ein gesellschaftliches Individuum wie ich kommt nicht mehr hinterher. Dabei darf man nicht vergessen: Selbiges gilt auch für Politiker:innen, denn auch sie begegnen den jeweiligen Herausforderungen, denen auch wir begegnen, zum ersten Mal. Nur halt eben anders, aus anderen Beweggründen und vor allem aus einer anderen Sozialisation heraus. Positionen werden deklariert, Wirklichkeiten konstruiert und ein schleichender Unmut macht sich breit, egal bei wem, denn zumeist gibt es immer nur den einen, konsequent internalisierten Weg, der aus der jeweiligen Krise führt. Es fühlt sich geradezu verpflichtend an, sich diesem Internalisierungsprozess anpassen zu müssen, und pragmatisch betrachtet gibt es dahingehend immer nur zwei Lösungsoptionen: entweder – oder.

Politiker:innen müssen sich Kritik gefallen lassen: Wir müssen uns aber auch selbst kritisieren

Dabei fällt auf, dass wir uns emotional immer weiter voneinander entfernt haben, obwohl die Welt glücklicherweise immer weiter zusammengewachsen ist. Oder anders: Durch die Demokratie ist so viel Gutes entstanden, wir müssen nur aus der Lethargie erwachen und nicht alles verfluchen, was in den letzten Jahren vermeintlich schlecht gelaufen ist. Leider sind wir kaum in der Lage, miteinander zu kommunizieren, zu debattieren oder einander zuzuhören. Vielmehr schwadronieren wir. Wir müssen ja eine Meinung haben und, bestenfalls, an dieser festhalten. Aber mal ehrlich: Es ist okay, wenn man mal keine Meinung hat und etwas nicht versteht. Dann gilt es, sich aufklären zu lassen, sich und sein Verhalten zu reflektieren. Gleichzeitig müssen aber Meinungsmacher:innen, insbesondere Politiker:innen auch mal dorthin, wo es vielleicht wehtun könnte: In die real konstruierte Wirklichkeit eines gesellschaftlichen Individuums, das von den theoretischen Konstruktionen und Ideen so weit entfernt lebt, weil es zu keinem erkennbaren Berührungspunkt kommt. Die Welt eines Lageristen aus Castrop-Rauxel ist nämlich so viel anders als die eines Herrn Lindner aus Berlin oder eines Akademikers, der in einer Verwaltung tätig ist. Hey, nobody is perfect and never will be, aber Theorie und Praxis liegen einfach sehr weit auseinander, insbesondere in Sachen Politik – und vor allem in Sachen eines grundlegenden Demokratieverständnisses. Aber ich will der Schwester der Freiheit heute zur Seite springen. 

Denn wenn schließlich der Status einer unzurechnungsfähigen Unzufriedenheit aufkommt, äußern die ein oder anderen Menschen, dass sie in keiner Demokratie leben würden und dass insbesondere die Politik an allem schuld sei. Und das ist gefährlich, gerade dann, wenn Politiker:innen nicht mehr zeigen, was Demokratie eigentlich leisten kann: uns zusammenbringen. What? 

Das Ideal der Demokratie – ein Sediment längst vergangener Tage? 

„Wir leben in keiner Demokratie!“ Diesen Satz habe ich in meinem Alltag wirklich schon oft gehört und immer wieder muss ich lange darüber nachdenken, denn eigentlich hat sich in fast allen Staaten Europas das parlamentarisch-demokratische Regierungssystem durchgesetzt. Auch wird die Politik oder werden Politiker:innen süffisant belächelt. Meines Erachtens auch manchmal (immer) zurecht, aber darum geht es nicht, weil sie eben nur Politiker:innen sind und somit nur repräsentativ für die Demokratie verantwortlich sind.

Also stellt sich vielmehr die Frage, was Demokratie eigentlich ist und wie sie vermittelt werden sollte und überhaupt vermittelt werden kann, denn einen Erwerb demokratischer Kompetenzen haben wir schon lange abgelegt. Es scheint wie ein Sediment längst vergangener Tage. Vielmehr agieren wir fast überall, auch im sozialen Handeln und dem Knüpfen von Freundschaften, zum Teil neoliberalistisch und fremdbestimmt. Die Frage lautet also vielmehr: Warum sind viele Menschen aktuell so unzufrieden oder gar „politikverdrossen“ und wälzen alles auf die Demokratie ab?

Und warum attackieren wir diejenigen, die sich, basierend auf dem demokratischen Leitgedanken, so unglaublich stark machen für notwendige Veränderungen, wie z. B. Klimaaktivist:innen, Feminist:innen und Menschen, die sich für Zugehörigkeit, Partizipation und Chancengleichheit einsetzen? Liegt es ausschließlich an den Krisen oder der Tatsache, dass sich Politiker:innen wirtschaftlich und ökonomisch haben korrumpieren lassen? Liegt es daran, dass womöglich die Armutsquote immer größer wird, sei es hier oder sonst wo auf der Welt? Wahrscheinlich schon, aber insgesamt scheint auch das zu einfach. Ich hege eher die Vermutung, dass wir der „Demokratie“ mittlerweile einen institutionalisierten Realfaktor zuschreiben oder sie als internalisierte Wirklichkeit betrachten, das heißt ganz einfach hinnehmen, dass sie da ist. Und als Argument langweilt sie uns. Plopp, da ist sie: Demokratie, alte Keule. Dabei wird die Historie der Demokratie nicht mehr ausreichend gewürdigt. Zumeist wird nur noch die Politik bzw. das Handeln der Politiker:innen begutachtet, die unter dem Deckmantel der Demokratie handeln, aber eigentlich ökonomisch agieren.

Was ich damit sagen möchte, ist Folgendes: Die Demokratie, so wie fast alles im Leben, ist ein gesellschaftliches Konstrukt, welches aber vielmehr als eine Entität betrachtet und nur dann genannt wird, wenn sie mal wieder gebraucht wird, in der Regel also alle vier Jahre. Als sei sie eine natürliche Ressource, auf die man argumentativ immer mal wieder zurückgreifen kann. Sie wirkt wie eine Mahnung und wird immer dann aus dem Hut gezaubert, wenn wir uns in einem Krisenmodus befinden. Aber Gesellschaft inkludiert uns alle. Und Demokratie darf nicht missbraucht werden. 

Demokratie ist ein Ideal in uns– trotzdem müssen wir Demokratie wieder erlernen

Es erinnert fast an die Sichtung eines seltenen Lebewesens: „Schau, Kind, da ist die Demokratie. Sei bloß vorsichtig!“ Aber gerade im Zeitalter digitaler und sozialer Medien und einer immer schneller werdenden Kommunikation können solche Konstruktionen durchaus überfordernd für eine Gesellschaft sein, gerade oder eben trotz einer Internalisierung. Das ist auch in Ordnung. Wir sind ja in der Lage, die Gefahren gesellschaftlichen Unmuts zu benennen und zu erkennen, aber wir können sie nicht mehr greifen. Dabei gibt es zwei Wesensmerkmale, die genannt werden müssen. Zum einen darf Demokratie nicht mit der Politik gleichgesetzt werden. Das wird viel zu oft gemacht. Der Weg einer Demokratie bedeutet gleichzeitig, dass wir einen Pfad voller riskanter Freiheiten betreten haben, z. B. dass sich die Demokratie von wirtschaftlichen Interessen hat korrumpieren bzw. austricksen lassen oder dass Politiker:innen fernab von einem Zugang zu einer wirklichen erfahrbaren Lebenswelt agieren. 

Zum anderen aber liegt die Verantwortung in uns selbst. Die gesellschaftliche Zivilbevölkerung ist nämlich für das „Dasein“ und für die Realexistenz einer Demokratie verantwortlich. Es ist ein Ideal in uns, welches wir immer wieder suchen, finden und in unserem Alltag manifestieren müssen. Demokratie heißt nämlich Veränderung, Innovation, aber auch Kampf um Existenzberechtigung. Sie kann nicht stagnieren und darf es auch nicht. Jede:r hat die Möglichkeit, etwas zu verändern. Und so blicke ich zurück und sehe so viele Errungenschaften eines demokratischen Ideals, wie z. B. die Wahl eines parlamentarisch-demokratischen Regierungssystems mit gleichem Wahlrecht auf Reichs- und Landesebene am 11.8.1919 oder knapp hundert Jahre später Gesetzentwürfe zur Stärkung der geschlechtlichen Selbstbestimmung. 

Es können noch so viele Dinge genannt werden, worauf wir als Demokrat:innen, die wir alle sind, stolz sein können. Demokratie bedeutet in ihrem Ideal auch immer Entwicklung. Es gilt nur, dafür zu arbeiten. Und eine Entwicklung kann mal gut verlaufen, kann aber auch schlecht verlaufen, Stichwort Neoliberalismus. Wenn Politiker:innen dann auf die Demokratie als Verpflichtung verweisen, ist das eigentlich eine absolute Frechheit, denn viele dieser Politikverdrossenen hatten noch nie Kontakt zu politischen Akteur:innen und haben zum Teil auch ganz andere Sorgen als Tempolimit, Gendern oder Dinge, die sie nicht beeinflussen können. Politikverdrossene aber als undemokratisch per se zu bezeichnen ist eine Farce, gerade dann, wenn diese nicht wissen, wie sie am 07. eines Monats Essen auf den Tisch zaubern sollen oder keine politische Anlaufstation in ihrer unmittelbaren Lebenswelt haben. Und so blicke ich auf die jüngsten Entwicklungen dieser noch so jungen, mit Fehlern bespickten Demokratie und denke mir: Mach weiter, Schwester. Geh deinen Weg. Aktivist:innen, Intellektuelle und Forscher:innen geben dir das notwendige Futter und Politiker:innen müssen dann nur noch die reale Lebenswelt entdecken. Kleiner Hinweis: Das Futter befindet sich unter dem Überstand des Sediments.

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Sebastian Schopp, studierter Religionswissenschaftler und Philosoph mit umfangreicher Erfahrung in der Sozialberatung für neu zugewanderte Menschen. Berufstätig als Integrationsfachkraft. Seit 2015 berufstätig und federführend verantwortlich für verschiedene Kulturprojekte.

Verena Siggelkow ist Wahlberlinerin und Künstlerin. Nach ihrer Ausbildung zur Illustratorin und grafischen Zeichnerin hat sie als Freiberuflerin im Bereich Stop-Motion gearbeitet und sowohl digital als auch analog eigene Illustrationen sowie Kinderbücher gestaltet. Aufgrund ihres Interesses an sozialen Themen, hat sie aufbauend das Studium der Sozialen Arbeit absolviert und setzt sich nun mit der Verbindung von Kunst, Kreativität und Selbstbestimmung auseinander.

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