Demokratie erneuern

Niemand kann irgendwen, irgendwohin führen ohne jemals selbst dort gewesen zu sein.

Der Theologe Markus Roll hat das Buch „Demokratie erneuern – Niemand kann irgendwen, irgendwohin führen ohne jemals selbst dort gewesen zu sein“ geschrieben und stellt dem DEMOS MAG einen Textausschnitt und seine Gedanken zur Verfügung.

Vorwort von Markus Roll

Seit vielen Monaten grummelt es in mir. Irgendetwas läuft in unserem Land doch nicht ganz rund. Ich studiere und meditiere und sammele Daten, Eindrücke und Emotionen. Als mich dann 2021 ein Schweizer Journalist fragte, was eigentlich mit unserer Demokratie los sei, begann in mir ein Prozess. Viele Gedanken in mir formten sich zu diesem kurzen aber knackigen Buch. Corona zeigt wahrscheinlich den Zustand unserer Postdemokratie deutlicher als je zuvor. Postdemokratie? Das ist ein Zustand, der auf den der repräsentativen Demokratie folgt. Politiker:innen setzen aber oft nicht mehr den Willen des Volkes um. Was sollen wir von politischen Leitern erwarten, die in einem Parteigefüge gefangen stecken, das von Macht, Karriere und Lobbyismus geprägt ist? Wer soll uns in eine nachhaltigere und holistischere Zukunft führen, wenn diese inneren Werte nicht Teil des Bewusstseinszustandes sind?

Wir dürfen, sollen und müssen wahrscheinlich auf breiter Ebene politischer werden. Die Verantwortung können wir nicht länger auf wenige professionelle Politiker:innen abwälzen. Und es passiert ja schon: Junge Menschen demonstrieren wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die heutige Form von Demokratie ist eine Idee, die auch anders gestaltet werden kann. Die Reise dahin beginnt in jedem Einzelnen von uns. Ich nenne es innere Arbeit. In diesem Sinne ist dieses Buch auch keine Hetzschrift sondern aus Liebe und konstruktivem Aktivismus motiviert. Das Buch dient dazu, vor allem jungen Menschen und Aktivist:innen Perspektiven und Hoffnung zu vermitteln. Es wächst eine Generation mit wenig Hoffnung auf eine gute Zukunft auf. Es muss klar kommuniziert werden: Zwischen dem aktuellen Zustand unseres Landes und den Visionen von Querdenker:innen und Wutbürger:innen gibt es etwas hoffnungsvoll Konstruktives.

Wir lassen Ego, Macht, Karriere, Hierarchie, Perfektionismus und Kontrollsucht hinter uns

Ich lasse mich nicht über einzelne politische Fehlentscheidungen aus. Sorry, wenn ich Erwartungen diesbezüglich enttäusche. Das Verhalten der politischen Elite ist nur die Spitze des Eisberges. Sich auf diese zu konzentrieren, lässt Dampf ab, führt uns aber nicht weiter.
Wir sollten uns auf das konzentrieren, was unter der Oberfläche liegt. Die Muster. Die Strukturen. Der Grad von persönlicher Entwicklung. Da sollten wir ansetzen, wenn wir etwas bewegen wollen. Das System will durchschaut, entzerrt und erneuert werden.

Tauchen wir in die Welt der Politiker:innen ein. Wie sie vom Lobbyismus beeinflusst werden. Wie sie Machteliten befriedigen müssen. Wie sie sich in einem postdemokratischen System zurechtfinden. Wie man immer nur bis zur nächsten Wahl denken kann. Wie das politische System es gar nicht ermöglicht, mittel- und langfristige Entwicklungen in Gang zu bringen. Und das obwohl eine Kanzlerin 16 Jahre im Amt saß. Überhaupt: Sollten in Zukunft nicht zwei Legislaturperioden reichen? Damit man sich schneller nach Nachwuchs umschauen kann. Was im Prinzip so gut wie gar nicht passiert. Nachwuchs findet entweder seinen Weg durch die eigene Partei oder findet ihn gar nicht. Viele begabte Nachwuchsleiter:innen dann eher gar nicht, weil sie verständlicherweise kein Interesse an Parteipolitik haben. Mit Dauer der Zugehörigkeit in einem Ortsverband, Zeiteinsatz, Positionierung und all dem, was Vereinsmeierei eben ausmacht.

Aber angenommen, eine neue Generation steht auf. Sie ist ja dabei. Wie sieht es dann mit einer neuen Generation von Politiker:innen aus? Wie sollen sie mit dem Parteisystem umgehen? Vor allem, wenn sie sich weiterentwickelt haben? Ich meine entwicklungspsychologisch weiterentwickelt. Was sollen sie machen, wenn die Politiker:innen unseres Landes fast ausschließlich von Parteien gestellt werden? Wie soll sich eine neue Generation von Politiker:innen verhalten, wenn sich ihr innerer Zustand nicht mehr mit Macht, Karriere und dem Aufbau des eigenen Egos anfreunden kann? Das ist die Frage: Was machen wir mit dem aktuellen Parteisystem? Dem Gefüge aus Macht, Karriere und Ego? Was so gar nicht mehr in unsere Zeit passt. Was eine neue Welt verhindert.

Die Entwicklungspsychologie hat in den letzten 150 Jahren bis zu zehn Ebenen von Entwicklungen identifiziert. Vereinfacht gesagt, entwickeln wir uns im besten Fall von ego-zentriert über gruppen-zentriert hin zu welt-zentriert. Man nennt das auch Bewusstseinsebenen. Zuerst steht das Ego im Mittelpunkt, dann eine Gruppe und ihre Inhalte und dann entwickeln wir uns aus der Gruppe hinaus, weil die Werte der Gruppen-Ebene nicht mehr mit unseren konform sind. Wir lassen in diesen Entwicklungsschritten Ego, Macht, Karriere, Hierarchie, Perfektionismus und Kontrollsucht hinter uns. Warum? Weil uns das Leben etwas Größeres, Weiteres und Verbindendes vorgestellt hat.

Manche Menschen entwickeln sich weiter. Das Leben lädt sie dazu regelmäßig ein. Eine durchaus normale Entwicklung. Vor allem eine wünschenswerte. Nehmen wir nun den Faden vom politischen Nachwuchs wieder auf: Wie können wir nun Menschen, die eine gewisse Entwicklung hinter sich haben, einladen, politisch Verantwortung zu übernehmen? Politische Leiterschaft? Wenn doch so gut wie alle Politiker:innen unseres Landes aus den Parteien kommen? Ein Dilemma.

Collage: ©Johanna Hooper

Die Zeiten sind komplex. Und in komplexen Zeiten brauchen wir Leiter:innen, die eine innere Entwicklung durchmachen durften. Die das Land dorthin führen, wo sie selbst schon sind. Die uns mitnehmen auf eine Reise. Neue Dinge werden ohne Angst ausprobiert, selbst wenn sie nicht direkt zum erwünschten Ziel führen. Wir müssen als Volk aufhören, von unseren Leiter:innen Perfektionismus zu erwarten. Also Fehlerlosigkeit. Das offenbart nur unsere eigene Unsicherheit. Unsere Trägheit, Eigenverantwortung zu entwickeln. Eine neue Welt gestalten wir gemeinsam. Ein noch recht ansehnlicher Teil unserer Bevölkerung fährt aber noch diesen Ansatz: Nicht selbst denken, sondern auf Anweisungen von oben warten. Das wird von Partei-Politiker:innen auch begrüßt, weil es die eigene Karriere vorantreibt, Macht und Stimmen für die eigene Partei sichert.

Und so hält unsere aktuelle Politik einen gewissen Teil der Bevölkerung in ihrer Entwicklung auf. Das ist doof, denn die neue Generation von Leiter:innen wird nicht mehr im Top-Down-Modus regieren, führen oder leiten. Die neue Generation muss sich dann der Aufgabe stellen, Eigenverantwortung im Einzelnen zu stärken. Obwohl das schon längst von der aktuellen Politiker:innengeneration hätte geschehen können. Das kostet viel Zeit. Die Frage ist, ob unser Planet diese Zeit noch hat. Wir müssen mehr denn je Weiterentwicklung begünstigen. Bewusstseinsentwicklung fördern. Und Systeme abschaffen, die diese behindern und aufhalten. Wir müssen ohne das Parteisystem Politik betreiben können. Politik darf nicht den Fachleuten überlassen werden. Sie muss zur Sache von jeder und jedem von uns werden. Und das hat übrigens ein Politiker gesagt. Gustav Heinemann. Dritter Präsident unseres Landes. Anfang der 70er Jahre.

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Markus arbeitet als freiberuflicher Theologe. Er publiziert und hält Talks zu Themen der inneren Entwicklung. Über die Plattform SANTA BLACK SHEEP entwickelt er verschiedene Medien und veranstaltet diverse eigene Formate. Übrigens - dort kann sein Buch „Demokratie erneuern“ auch in voller Länge gelesen werden.

Johanna Hooper ist Künstlerin. Sie lebt in Berlin und erstellt sowohl digitale als auch handgeschnittene Collagen. Analog ist aber ihre wahre Leidenschaft.

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