Demokratie in der Klimakrise

Wer gefährdet die Demokratie?

Bricht die „Letzte Generation“ Regeln oder ist es die Bundesregierung? Wer genau erfüllt seine Bürger:innenpflicht und wer nicht? Wer missachtet Gesetze und welche Reichweite haben diese Gesetze? Wer hält Schaden vom deutschen Volke fern?

Heribert Prantl, der kluge Leiter des Ressorts Meinung bei der Süddeutschen Zeitung, schrieb im Januar: „Mit Langweilern und Duckmäusern ist kein kreativer Staat zu machen. Warum die Demonstranten wie die in Lützerath daher auch ein Glück sind.“

Denn die Frage ist doch: Wer blockiert hier eigentlich was? Die Aktivist:innen der letzten Generation blockieren Straßen und Landebahnen. Ist diese Handlung strafbar? Zunächst einmal ist ziviler Ungehorsam ein demokratisches Grundrecht. Wir müssen nicht mit allem einverstanden sein, was der von uns gewählte Staat uns an Entscheidungen vorsetzt. 

Menschen, die ja gerade die Einhaltung von Recht und Gesetz fordern, als „Terroristen“ zu bezeichnen ist daher diffamierend und der konservative politische Versuch, eine dringend notwendige Debatte über notwendige Veränderungen in der Klimakrise zu blockieren. „Auch gegen rechtsgültige Eigentumsverhältnisse wie im Falle RWE, wie auch gegen den Kompromiss, den Landes- und Bundesregierung mit dem Kohlekonzern RWE ausgehandelt haben, darf demonstriert werden“, erklärt Prantl.

Ich bin also der Überzeugung, dass die Demonstrant:innen von Lützerath und die der „Letzten Generation“, demokratisch legitimiert sind und dass es diesen Widerstand gegen manifeste Routinen und Lobbyinteressen unbedingt braucht, um ein Leben in Menschenwürde (Art. 1 GG) auch für folgende Generation zu ermöglichen. Das übliche Ergebnis demokratischer Entscheidungsverfahren, der „Kompromiss“, darf kein fauler Kompromiss im Sinne der Klimaziele sein. Deshalb müssen vertretbare „Kompromisse“ auf dem 1,5 bzw. 2 Grad Pfad immer radikaler werden, weil die Zeit, die zur Kurskorrektur bleibt, immer kürzer wird. Vier Thesen möchte ich zum Zusammenhang zwischen Demokratie und Klimaerhitzung aufstellen.

These 1: Listen to the science 

Den Wissenschaftler:innen zuzuhören – das sollte wie der neue Kant‘sche Imperativ sein. Wer die Wissenschaft ignoriert, fällt in voraufklärerische und vordemokratische Zeiten zurück. „Sapere Aude!“, von Immanuel Kant 1784 mit „Habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen“ übersetzt, gilt als Leitgedanke der Aufklärung.  Ein Weckruf für die menschliche Vernunft, für die Berücksichtigung der Wissenschaft bei der alltäglichen Lebenspraxis.  Greta Thunbergs ikonische Aufschreie „I want you to panic” und “How dare you” fordern genau das: Nehmt das Problem endlich so ernst, wie es ist. Haltet euch verdammt nochmal an eure eigenen Gesetze, an den 1,5 Grad Beschluss von Paris, an die daraus abgeleiteten nationalen Klimagesetze. Und handelt dabei wirklich und lügt nicht nur rum. Den kategorischen Imperativ der FridaysForFuture Bewegung könnte man so formulieren:

„Verhaltet euch so, dass das 1,5 Grad Ziel eingehalten wird, wie ihr es in einem völkerrechtlich verbindlichen Gesetz beschlossen habt. Und gebt unserer Generation damit die Chance, eine Zukunft zu haben, die ein menschenwürdiges Leben ermöglicht.“ Die Realität sieht leider anders aus. Die letzte Bundesregierung musste vom Bundesverfassungsgericht an das 1,5 Grad Ziel erinnert werden. Der Kohlekompromiss der letzten Legislatur war faul und auch der jetzige für NRW scheint vielen nicht ausreichend. Das Bundesverkehrsministerium betreibt in unterschiedlicher Besetzung seit zwei Jahrzehnten klimapolitische Arbeitsverweigerung.

These 2: Wir leben in einer Lobbykratie. 

Das zeigt sich darin, dass die Interessen von der Großindustrie höher bewertet werden, als die Interessen der nachfolgenden Generationen. Bei der COP27 in Sharm el Sheik in Ägypten zählten Beobachter:innen 636 Lobbyisten der Öl, Gas und Kohleindustrie. Damit waren die fossilen Lobbyisten stärker vertreten, als die zehn am meisten von der Klimaerhitzung betroffenen Staaten. Chris Vielhaus hat für die konstruktive Online-Plattform „Perspective daily“ 2022 die gesamte Geschichte des Betrugs der Öffentlichkeit durch die Öl-Industrie präzise recherchiert. Unter verschleiernden Namen wie „CO2 and Climate task force“ oder „Global climate coalition“ gründete die amerikanische Öl-Industrie sogenannte „Institute“, die nur ein Ziel verfolgten: Zweifel sähen an der von ihnen selbst sehr genau erforschten Erhitzung der menschlichen Umwelt. Was Vielhaus auch veröffentlichte, belegt im „Carbon Majors Report“: 100 Unternehmen sind für mehr als 70 Prozent aller Treibhausgasemissionen der Menschheit verantwortlich. Angeführt wird die Liste der größten Klimaerhitzer von Saudi Aramco, Chevron, Gazprom und ExxonMobil. RWE steht als dreckigster Konzern Deutschlands auf Platz 41 dieser Liste.

Diese Hintergründe sollte man kennen, einordnen und bewerten, wenn man über die vordergründige Frage diskutiert, ob es legitim ist, dass einige hundert Menschen in Deutschland sich aus Verzweiflung über das Zu-Wenig-Handeln aller bisherigen Bundesregierungen auf Autobahnen und Flugfelder festkleben.

These 3: „Die letzte Generation“ – Ausdruck lebendiger Demokratie 

Wer oder was gefährdet die Demokratie? Die Einforderung staatlichen Handelns für die Einhaltung des 1,5 Grad Ziels oder das staatliche Nicht-Handeln im Sinne des 1,5 Grad Ziels.

Entlang dieser Linie verläuft der aktuelle Konflikt zwischen der deutschen Politik und der Klimabewegung. Und die tektonischen Spannungen nehmen zu. Sie nehmen vor allem deshalb zu, weil die Politik tut, was bisher immer scheinbar gereicht hat. Sie schließt Kompromisse. Es werden Lösungen ausgehandelt, die von allen mehr oder weniger getragen werden können.

Die Fieberkurve der Erde lässt sich aber mit Kompromissen nicht senken. Deshalb verschärfen sich gerade die Konflikte zwischen Aktivist:innen und Regierungen.  Die Hoffnung, dass wir doch noch eine Chance haben, ist noch nicht alt. Der Pariser 1,5 Grad Beschluss 2015, die weltweite Mobilisierung der Jugend durch Greta Thunberg und FridaysForFuture seit Sommer 2018, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dass die letzte Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD ihr Klimagesetz nachbessern muss, boten Anlass zur Hoffnung.

Diese Hoffnung kippt gerade. Der Gefühlszustand bei Aktivist:innen weltweit steht auf Alarm und Notfall. Doch es gibt keine Sirenen, kein Blaulicht, keine Notrufnummer, die den Ausnahmezustand signalisiert oder gar Nothilfe verspricht. Und die Politik? 

Setzt andere Prioritäten. Erst müssen die Flüchtlingswellen gestoppt werden. Erst muss die Corona Pandemie besiegt werden. Und schließlich haben wir jetzt Zeitenwende. Der Ukrainekrieg bestimmt die politische Agenda. Routinen und Lobbyisten sind mächtig. Deshalb bleibt unsere Politik im „Weiter so“ verhaftet, und nennt das „Realismus“. Dabei ist es eine durch nichts zu rechtfertigende Illusion, dass es schon irgendwie gut gehen wird. 

Unser repräsentatives System verliert Legitimität vor allem in der jüngeren Bevölkerung, weil es deren Langfristinteressen nicht vertritt. Insofern schwelt hier auch ein Generationenkonflikt zwischen vielen konservativen Alten, die sich ihren Ruhestand nicht verderben lassen wollen und deren Kindern und Enkeln, die ihnen erklären, dass sie genau damit ihre Zukunft zerstören.

These 4: Mehr Demokratie wagen

Die Konsequenz: Mit mehr Demokratie, nicht mit weniger lässt sich die Klimakatastrophe aufhalten. Wir müssen also mehr Demokratie wagen, um offensiv Mehrheiten für den „great mindshift“ zu schaffen. Vielleicht ist das aggressive ausbeuterische Fossilzeitalter doch vor allem durch einen anderen Umgang der Spezies Mensch untereinander zu beenden.

Ich darf hier mal träumen. Die konstruktive Überwindung der Klimakrise braucht mehr Beteiligung der Menschen an ihrem Gemeinwesen. Ein Weg dorthin kann zum Beispiel über die flächendeckende Einführung von Bürgerräten beschritten werden. Als Aimée van Daalen, Sprecherin der „Letzten Generation“ bei „Hart aber fair“ Gesellschaftsräte forderte, empörten sich zwei anwesende Bundestagsabgeordnete von der CDU und der FDP mit großer Geste: „Das ist undemokratisch. Demokratie ist, wenn Bürger wählen und nicht das Los.“ Ich selbst betrachte die Klimakrise als die größte politische und gesellschaftliche Kommunikations- und Moderationsaufgabe. Wir brauchen hier dringend neue Ideen und Verfahren. Die Klimakrise ist inzwischen vor allem eine politische und gesellschaftliche Herausforderung. Die Naturwissenschaft hat ihren Job getan. Alle Lösungen, die ich für mein Buch „Klimaschutz ist Menschenschutz“ gefunden habe, zeichneten sich durch ein mehr an Kooperation und ein weniger an Egoismus aus. Der Mensch kann Kooperation. Das zumindest lässt hoffen.

 

Cover Buch Klimaschutz ist Menschenschutz von Michael Adler
©oekomVerlag
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Michael Adler glaubt daran, dass Worte die Welt verändern. Der Journalist und Politikwissenschaftler schreibt für die „Große Transformation“. Vor zehn Jahren gründete er tippingpoints, die Agentur für nachhaltige Kommunikation.

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