„The people want to see justice!”

Warum wir in einer Demokratie über Recht, Gerechtigkeit und Verantwortung sprechen müssen.

Sind wir mal ehrlich. Liebe, Hass und der Wunsch nach Gerechtigkeit sind die stärksten Motoren für menschliches Handeln. Dabei ist die Vorstellung von Gerechtigkeit so persönlich und verschieden, wie auch das, was wir als ungerecht empfinden. Kein Wunder also, dass es nicht nur in unseren Köpfen, sondern auch in der politischen Theorie unzählige verschiedene Gerechtigkeitsvorstellungen gibt. Die einen nehmen besondere Themen in den Blick, wie zum Beispiel die Klima-, Generationen- oder Geschlechtergerechtigkeit. Andere loten die Facetten von Gleichheit und Ungleichheit genau aus oder schauen sich an, wie Religiosität und Herkunft unsere Gerechtigkeitsmoral prägen. Wenn man anfängt sich mit Gerechtigkeit zu beschäftigen, erwartet einen ein schillerndes Mosaik an verschiedenen Positionen. Und das ist gut so, denn in einer diversen Gesellschaft ist Objektivität eben eine Frage der Perspektive.

Aber wie sollen wir da gute Regeln für ein friedliches und faires Miteinander finden? Geschweige denn einen Maßstab für Gerechtigkeit?

Demokratische Mittel nutzen ©Johanna Benz

Brauchen wir im Rechtsstaat also ein gutes Erwartungsmanagement?

Der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch (1878-1949) versuchte genau das hinzubekommen. Recht ist für ihn, was Rechtssicherheit schafft, und Gerechtigkeit erstrebt. So weit so gut. Mit dem Bekenntnis zu den Menschenrechten in unserem Grundgesetz könnte man meinen, Gerechtigkeit ist heute implizit Teil der DNA unseres Rechtsstaats. Aber was, wenn die Mittel des Rechts nicht genügen und der Wunsch nach individueller Gerechtigkeit unerfüllt bleibt? Radbruch hat hierfür eine klare Antwort: Aushalten. Weil Moral in seiner Rechtsvorstellung nichts verloren hat, hat das positive – also das vom Gesetzgeber festgesetzte – Recht immer Vorrang, auch wenn es sich inhaltlich ungerecht oder sogar unzweckmäßig anfühlt. 

Ein Hintertürchen und eine Carte Blanche also für Diktaturen und staatliche Willkür? Nicht ganz. Denn wenn der Widerspruch zwischen Gesetz und Gerechtigkeit so groß und unerträglich ist, dass die Gleichheit der menschlichen Würde missachtet wird, dann gelten unrechtes Recht und Gesetz nicht mehr, so Radbruch.

Wie geht ein Rechtsstaat mit Unrecht um? ©Johanna Benz

Aber was hat Philosophie mit sozialer Wirklichkeit zu tun?

Mir drängt sich hier zwangläufig die deutsche Geschichte auf, aber auch die dramatische Situation im Iran und die Debatten um den Rechtsstaatsverlust in Europa. Unterlassenes Engagement auf der einen, tödlich bestraftes auf der anderen Seite. Wir rufen nach Gerechtigkeit, wenn sie fehlt. Aber werden wir auch für sie – im Rahmen unserer rechtsstaatlichen Möglichkeiten – aktiv? 

In Artikel 20 Abs. 2 des Grundgesetzes der Bundesrepublik heißt es: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ Für das Verständnis von Recht im demokratischen Rechtsstaat dürfen wir deswegen nicht vergessen, unter welchen Bedingungen Recht entsteht. Denn so relevant das, WAS ist, so wichtig ist auch das WIE.

Man kann Gesetze auch jenseits von demokratischen Wahlen durch zivilgesellschaftliches Engagement und Bürgerbeteiligung beeinflussen, kann gegen Urteile und Maßnahmen klagen. Aber man muss es dann auch tun. Denn Recht braucht Gesellschaft. 

Ich glaube, das vergessen wir manchmal. Vielleicht, weil der Powi-Unterricht in der 8. Klasse einfach schon zu lange her ist und uns außer „Instanzenzug“ und „Demokratie“ kaum etwas anderes zu unserem Rechtssystem einfällt. Schade eigentlich. Denn nur wenn wir unsere Rechte, Möglichkeiten aber auch Grenzen in einem demokratischen Rechtsstaat kennen, können wir sie auch einfordern und nutzen.

„Gerechtigkeit ist eine Erfahrung des Unmöglichen“ schrieb der algerisch-französische Philosoph Jaques Derrida (1930–2004), aber trotzdem eine ziemlich gute Leitplanke für rechtliches und politisches Handeln.

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Kathrin Schön (M.A.) ist Kuratorin und Moderatorin und leitet seit 2021 den Fachbereich Programm und Veranstaltungen bei der Stiftung Forum Recht in Karlsruhe und Leipzig.

Foto: ©Norbert Miguletz

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