Sucht

Sucht – nicht Krankheit genug?

Die Hürden und Auswirkungen der Suchtbehandlung

Stell dir vor, du bist krank. Du würdest gerne in eine Praxis gehen, um dich behandeln zu lassen, aber es geht nicht – denn für deine Krankheit gibt es in deiner Umgebung keine ausgebildeten Ärzt:innen. Du brauchst dringend ein Medikament, aber niemand ist bereit, es dir zu geben. 

Schätzungsweise 166.000 Menschen sind in Deutschland abhängig von Heroin und anderen Opioiden. Die Anzahl der Menschen, die jährlich an den Folgen des Missbrauchs illegaler Substanzen sterben, steigt. Menschen, die von der Droge wegkommen möchten, haben die Möglichkeit, eine sogenannte Substitutionsbehandlung in Anspruch zu nehmen. Zumindest in der Theorie. Denn in der Praxis fehlen Ärzt:innen, die eine Substitutionsbehandlung anbieten. 

Im Jahr 2020 gab es in Deutschland 55.116 Hausarztpraxen. Lediglich 2.545 Substitutionsärzt:innen haben sich im gleichen Jahr beim Substitutionsregister gemeldet. Gerade im ländlichen Raum fehlen diese Praxen gänzlich. Es gibt kaum junge Ärzt:innen, die sich dahingehend ausbilden lassen wollen. Ein großes Problem, nicht nur für Menschen mit Suchterkrankungen. 

Was genau ist eigentlich die Substitutionsbehandlung? 

Es gibt verschiedene Substitutionsmittel. Die wohl bekannteste „Ersatzdroge“ ist Methadon. Anstatt Heroin zu injizieren oder zu rauchen, kann Methadon eingenommen werden. In den ersten drei Monaten einer Substitutionsbehandlung müssen die Patient:innen das Methadon jeden Tag vor Ort, unter Aufsicht der Ärzt:innen oder MFA, in der Praxis einnehmen. Zu groß wäre die Gefahr, dass sie es ohne Begleitung überdosieren oder einen Teil weiterverkaufen. Methadon ist ein Morphinabkömmling, ebenfalls mit Nebenwirkungen. Eine Überdosis hiervon kann auch tödlich sein. Deshalb ist die kontrollierte Einnahme so wichtig.

Findet während der Behandlung kein Beikonsum in Form von anderen Drogen wie Kokain oder Benzodiazepine (wirkt wie Valium) statt, kann Alkoholmissbrauch ausgeschlossen werden und ist die Psyche stabil, dürfen die Patient:innen das Methadon nach diesen drei Monaten zuhause einnehmen und die Dosis kann gegebenenfalls in Absprache mit dem Arzt oder der Ärztin verringert werden. 

Bürokratische Hürden abgeschafft

Die Verschreibung von Methadon war lange Zeit nur Ärzt:innen erlaubt, die eine suchtmedizinische Qualifikation haben. Dabei handelt es sich um eine Weiterbildung bestehend aus mehreren Fortbildungen und einer abschließenden Prüfung bei der Ärztekammer. 

Bürokratisch gibt es mittlerweile weniger Hürden, vor einigen Jahren wurden hier aufgrund des Mangels an entsprechend ausgebildeten Ärzt:innen nochmal Erleichterungen geschaffen.

Zwar ist eine ordentliche Dokumentation der Behandlung wichtig und muss dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte mitgeteilt werden, die Leistungen werden aber in vollem Umfang und ohne Begrenzung von den Krankenkassen bezahlt. Auch dürfen Ärzt:innen ohne die entsprechende Weiterbildung seit ein paar Jahren eine geringe Anzahl an Patient:innen substituieren – allerdings nur im engen Austausch mit ausgebildeten Kolleg:innen.

Unattraktive Arbeit

Dr. Ulrike Heinemann ist Allgemeinmedizinerin mit eigener Praxis in Dortmund und Fachärztin für Suchtmedizin. In Dortmund bieten mehrere Praxen Substitutionsbehandlungen an. Es finden regelmäßig Treffen und Austausche zwischen Mediziner:innen und Sozialarbeiter:innen statt. Man ergänzt und unterstützt sich gegenseitig. Zusätzlich ist sie Mitglied im Verein PUR, der eine abwechselnde Zentralvergabe an den Wochenenden organisiert. Sie betont die Wichtigkeit des Netzwerks, denn: Die Patient:innen müssen gerade am Anfang der Behandlung jeden Tag der Woche die Möglichkeit haben, das Substitutionsmittel zu bekommen, um nicht rückfällig zu werden. Diese lückenlose Betreuung ist selten und in vielen Gegenden nicht gegeben. Bietet man Substitutionsbehandlung an, muss gewährleistet sein, dass man die Patient:innen an jedem Wochentag betreuen kann. Ist man die einzige Praxis im Umfeld, die diese Behandlung anbietet, wird das eine riesige zeitliche Herausforderung, die viel Einsatz und Bereitschaft einer einzelnen Praxis bedarf.

Klischee Mensch?

Hinzu kommt natürlich die Berührungsangst mit dem Klientel der „drogenabhängigen Menschen“. Ulrike Heinemanns Patient:innen sind verschieden, stammen aus allen gesellschaftlichen und sozialen Kreisen. Den typischen „Drogenabhängigen“ gibt es nicht. Es gibt die Arbeitnehmer:innen, die Selbstständigen, die mit Familie und Kindern, aber eben auch die Menschen von der Straße. Manche bleiben immer dort, anderen kann Dr. Heinemann durch die Substitutionstherapie wieder zu einem geregelten Leben verhelfen. Einigen ist gemein, dass sie traumatische Erfahrungen in der Kindheit gemacht, in der Kernfamilie schon Drogenmissbrauch mitbekommen haben, in gewalttätigen Strukturen aufgewachsen sind oder psychische Probleme haben. Man erfährt die persönlichen Geschichten und Schicksale mit der Zeit: „Süchtig wird man nicht einfach so.“ Manchmal ist sie mehr als nur verabreichende Ärztin, für einige ist sie eine wichtige und unerlässliche Struktur im Tagesablauf.

Sie selbst hat keine „Angst“ vor den Menschen. Bei ihr in der Praxis gibt es Regeln, die sie von Anfang an klar kommuniziert, und wer sich nicht daran hält oder verbal ausfallend wird, muss gehen und kann am nächsten Tag nochmal wieder kommen. Dennoch versteht sie die Schwierigkeiten: „Es ist etwas mehr Einsatz, es gibt unangenehme Situationen und anstrengende Begegnungen und man muss als behandelnde Ärztin standhaft sein, sich nicht erpressen lassen, eine ganz klare Linie vorgeben.“ Auch haben die Menschen oft weitere gesundheitliche Einschränkungen, da andere Ärzt:innen nicht aufgesucht werden und die Immunsysteme durch den Konsum geschwächt sind. Schwelende Infektionen, offene Wunden, Zahnprobleme. Bei ihr persönlich gilt jedoch: Solange ein gegenseitiger respektvoller Umgang gegeben ist, behandelt sie – unabhängig von der Diagnose. „Es ist eine Krankheit wie andere Krankheiten auch. Wenn es jemandem schlecht geht, helfe ich demjenigen. In anderen Situationen sage ich ja auch nicht, den oder die behandele ich jetzt nicht, weil die Person nicht meinem Hygienestandard entspricht oder nicht alle meine Ratschläge befolgt hat.“ 

Konsequenzen können tödlich sein

Verdrängung löst das Problem nicht – im Gegenteil. Dr. Heinemann appelliert an junge Ärzt:innen, sich zusammenzutun innerhalb einer Stadt, aber auch an die kommunale Politik, die Menschen nicht wegzuschieben. „Kaum jemand möchte eine Methadonausgabe aus Gründen der Geschäftsschädigung in seiner Nähe haben.“ Sie betont die Wichtigkeit der Substitutionsbehandlung: „Wenn die Menschen nicht mehr die Möglichkeit haben, kontrolliert und begleitet substituiert zu werden, hat das massive Auswirkungen, nicht zuletzt auf unser aller Zusammenleben. Prostitution und Beschaffungskriminalität werden ansteigen.“ Die Menschen müssen außerdem auf unhygienische Nadeln und illegale Drogen zurückgreifen. Das kann weitere Infektionen und schwerwiegende Erkrankungen wie HIV oder Hepatitis B und C und letztlich auch den Tod nach sich ziehen.

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Carlotta Drees studierte Sozialwissenschaften mit den Schwerpunkten Gesellschaft, Politik und Medien in Düsseldorf. Auch neben ihrem Studium ist sie begeisterte Beobachterin von Gesellschaft, Menschen und menschlichem Verhalten. Als Natur- und Tierliebhaberin hat sie den utopischen Wunsch, dass die ganze Welt ein Naturschutzgebiet ist. Ihr besonderes Augenmerk gehört denjenigen, die in unserer Gesellschaft keine Lobby haben und es schwerer haben, sich Gehör zu verschaffen.

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