Kind versteckt sich

Schutzlos ausgeliefert

Triggerwarnung: Dieser Artikel thematisiert sexuelle Gewalt an Kindern

Immer mehr Kinder werden Opfer sexueller Gewalt – auch in Deutschland, einem vermeintlich sicheren, wohlhabenden Land. Die Dimension ist erschreckend groß. Warum wir hinsehen, handeln und schützen sollten.

Es ist 11.45 Uhr, in einer ersten Klasse in Nordrhein-Westfalen beginnt die fünfte Stunde. Die Kinder sitzen im Stuhlkreis, auf dem Boden liegt eine Tapetenrolle, auf der die lebensgroße Skizze eines Kindes zu sehen ist. Die Lehrerin fragt: „Wo darf Mama dich anfassen, wo möchtest du es nicht so gerne?“ Bei den meisten Kindern darf Mama relativ viel, bei manchen soll sie den Kopf nicht berühren, bei anderen ist es der Genitalbereich, der nicht angefasst werden soll. Die Kinder sprechen das ganz klar aus, sie wissen, wie ihre Genitalien heißen.

Was hier stattfindet, ist Präventionsunterricht. Die beiden Lehrerinnen unterrichten ihn einmal in der Woche. Sie mussten sich diese Stunde „freischaufeln“, haben sie selbst erarbeitet, denn sie steht in keinem Lehrplan. Und das obwohl in jeder Grundschulklasse, statistisch betrachtet, ein bis zwei Kinder sitzen, die von sexueller Gewalt betroffen sind oder waren. Die beiden Lehrerinnen sind meine Mitstreiterinnen. Wir haben eine Initiative gegründet, die sich dafür einsetzt, dass Prävention, Aufklärung und Intervention hinsichtlich sexueller Gewalt fester Bestandteil des Schulalltags wird und dass Lehrkräfte endlich ausreichend geschult werden, um Kinder besser zu schützen.

„Es gibt keine großen Entdeckungen und Fortschritte, solange es noch ein unglückliches Kind auf Erden gibt.“ (Albert Einstein)

Eine Volkskrankheit

Sexuelle Gewalt an Kindern ist in Deutschland keine Ausnahme, auch kein Einzelfall, sondern bittere Realität. Bereits 2016 wird die Dimension sexuellen Kindesmissbrauchs mit einer Volkskrankheit verglichen (UBSKM 20161). Richtig gelesen, Volkskrankheit. Dabei sind Lüdge und Co. nur die Spitze des Eisberges. Im Jahr 2020 erfasst die polizeiliche Kriminalstatistik rund 17.000 Fälle, in denen Kinder Opfer sexueller Gewalt wurden. Über 2000 dieser Kinder sind unter sechs Jahren. Dazu kommen 18.900 Fälle, in denen kinderpornographisches Material besessen oder verbreitet wurde (BKA 20222). Tendenz zu den Vorjahren: steigend.

Leider ist die Dunkelziffer gerade bei sexueller Gewalt an Kindern noch um ein Vielfaches höher. Dunkelfeldforschungen haben ergeben, dass jeder siebte bis achte Erwachsene in der Kindheit sexuelle Gewalt erfahren hat (UBSKM 2022, zitiert nach Witt, A. et al. 20173). Noch fataler ist, dass der Missbrauch überwiegend im nahen sozialen Umfeld oder in der eigenen Kernfamilie stattfindet. Deshalb bleiben die meisten Delikte über Jahre im Dunkeln (UBSKM 20224). Das Problem: Vielen Erwachsenen wird schon nicht geglaubt, wenn sie sich mitteilen, wenn sie sich trauen, über eigene sexuelle Gewalterfahrungen im erwachsenen Alter zu sprechen. Wie schwer muss es dann erst für ein Kind sein, Gehör zu finden. Ganz davon abgesehen, dass Kinder, die von klein auf sexuelle Gewalt erleben, lange Zeit nicht bewusst erfassen, dass ihnen Unrecht getan wird. Hinzu kommen die perfiden Vorgehensweisen der Täter:innen, die Manipulation der Kinder, Drohungen, Gewalt, Verlustängste und natürlich Scham.


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Das Gesetz verpflichtet uns

Dabei hat Deutschland gemeinsam mit 196 anderen Ländern 1992 die UN-Kinderrechtskonvention unterschrieben. Artikel 34 der deutschen Fassung besagt explizit: „Schutz vor sexuellem Missbrauch. Die Vertragsstaaten verpflichten sich, das Kind vor allen Formen sexueller Ausbeutung und sexuellen Missbrauchs zu schützen. Zu diesem Zwecke treffen die Vertragsstaaten alle geeigneten innerstaatlichen, zweiseitigen und mehrseitigen Maßnahmen (…).“5

Auch wir wurden immer wieder weggeschickt mit unserem Anliegen, Schule und Lehrkräfte besser aufzustellen. Erst die mediale Präsenz der Missbrauchsfälle in den letzten Jahren machte den Dialog mit den zuständigen Stellen möglich. Verändert hat sich trotzdem nicht viel, scheinbar traut sich an den Kinderschutz niemand so richtig ran. Die Schule ist ja nur eine von vielen gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen, wo es Nachholbedarf gibt und wo unfassbar bemühte und gewissenhafte Lehrkräfte mit dem Thema allein gelassen werden. Ebenso Jugendamtsmitarbeiter:innen, Pägagog:innen, Richter:innen, Psycholog:innen, Sozialarbeiter:innen oder Ehrenamtler:innen, die wirklich bemüht sind, etwas zu ändern. Sie predigen seit Jahren, dass etwas passieren muss und landen mindestens genauso lange mit ihren Anliegen in Sackgassen. Was fehlt, sind flächendeckende Fortbildungen, Fachkräfte, wirklich geschultes Personal, Vernetzung und Zeit – aber vor allem fehlt das gesellschaftliche und politische Interesse, Kinder wahrhaftig zu schützen. Kindern haben diesbezüglich einfach keine Lobby. Stets wird mit hohen Kosten argumentiert, aber das ist zu kurz gedacht, denn die Folgekosten übersteigen die der Präventionsmaßnahmen um ein Vielfaches: Wenn Menschen, die als Kinder Opfer von sexueller Gewalt wurden, später Therapieplätze benötigen oder Sozialhilfen beziehen, weil sie aufgrund ihrer Traumata vielleicht nicht im Stande sind, einer geregelten Arbeit nachzugehen oder ihr Leben in den sogenannten „Griff zu bekommen.“

Was macht das mit uns als Gesellschaft?

Ich persönlich träume von einer Gesellschaft, in der der Schutz der Kinder oberste Priorität hat. Eine Gesellschaft, In der sexuelle Gewalt an einem vierjährigen Kind mit einem anderen Strafmaß belegt wird, als eine Urkundenfälschung oder Steuerhinterziehung. Eine dreijährige Freiheitsstrafe löst meiner Ansicht nach das Problem nicht. Die Kinder von heute sind die Erwachsenen von morgen. Das, was sie heute erleben, formt sie zu den Menschen, die sie morgen sind. Was macht das mit einer Gesellschaft, in der so viele Menschen leben, denen in ihrer Kindheit Gewalt angetan wurde?

Eine Kinderschutzexpertin (selbst Betroffene) erklärte uns erst kürzlich: Ein Kind, das zuhause die Hölle auf Erden erlebt, fährt in der Schule runter, entspannt zum ersten Mal, versucht zu regenerieren, einmal kurz abzuschalten. Das Gehirn hat dann keine Kapazitäten für Mathematik, Deutsch oder Religion. Und das setzt sich fort, denn ein Mensch, der jahrelang mit der Verarbeitung von schweren Traumata zu kämpfen hat, dem fehlen diese Ressourcen an anderer Stelle.

Handzeichen häusliche Gewalt
Handzeichen "Häusliche Gewalt" ©Verena Siggelkow / Oben: ©Verena Siggelkow

„Das Handzeichen „häusliche Gewalt“, auch als Notgeste bezeichnet, ist eine Ein-Hand-Geste, mit der eine Person anderen bei Sichtkontakt – insbesondere auch über eine elektronische Bildverbindung – zeigt, dass sie sich bedroht fühlt und Hilfe benötigt.“*

Alle sind gefragt

Wir alle kennen Betroffene und wir alle kennen, meist ohne es zu wissen, vermutlich auch Täter:innen. Ich selbst habe verstanden, dass Anschuldigungen schwer wiegen und dass es Leben zerstören kann, wenn man jemanden falsch des Kindesmissbrauchs verdächtigt. Und ich weiß auch, wie schmerzhaft es ist, darüber nachzudenken, dass Kindern so etwas angetan wird – vielleicht sogar von jemandem, den man persönlich kennt. Aber Wegschauen gleicht bei diesen Zahlen einer Vogel-Strauß-Strategie, denn es werden eben auch jeden Tag Kindheiten und Kinderleben zerstört.

Wir könnten anfangen, Institutionen wie die Schulen dahingehend zu reformieren, Fachkräfte entsprechend fortzubilden, Prioritäten neu zu setzen. Denn auch Kinder, die nicht betroffen sind, profitieren von einer Aufklärung. Jedes Kind sollte wissen, dass Nein auch Nein heißt, dass es Rechte hat, dass es selbst entscheiden darf, von wem es wo angefasst werden möchte, dass andere Kinder auch Grenzen haben, dass es im Notfall nicht alleine ist und wie es um Hilfe bitten kann. Gleichzeitig müssen wir dem Kind vermitteln, dass ihm geglaubt wird. Ich wünsche mir darüber hinaus, nie wieder hören zu müssen: „Tolle Arbeit, aber das ist nicht mein Bereich, damit habe ich gar nichts zu tun“. Wir sollten verstehen, dass uns dieses Thema alle angeht und dass die Tatsache, dass du und ich vielleicht unversehrt, gewaltfrei und liebevoll aufgewachsen sind, keine Leistung ist, sondern Glück.

1)  Jud, A., Rassenhofer, M., Witt, A., Münzer, A., Fegert, J.M. (Januar 2016). Häufigkeitsangaben zum sexuellen Missbrauch. Arbeitsstab des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Berlin
2) BKA, (30.05. 2022). https://www.bka.de/SharedDocs/Kurzmeldungen/DE/Kurzmeldungen/220530_PK_KindlicheGewaltopfer2021.html
3) UBSKM (Januar 2022). https://beauftragte-missbrauch.de/fileadmin/user_upload/Materialien/Publikationen/Zahlen_und_Fakten/Fact_Sheet_Zahlen_und_Fakten_UBSKM-2022-01.pdf
4) UBSKM (2022). https://beauftragte-missbrauch.de/themen/definition/wo-findet-missbrauch-statt
5) Deutsches Komitee für UNICEF e.V. https://www.unicef.de/blob/194402/3828b8c72fa8129171290d21f3de9c37/d0006-kinderkonvention-neu-data.pdf

Bildunterschrift Handzeichen „Häusliche Gewalt“: Wikipedia

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Carlotta Drees studierte Sozialwissenschaften mit den Schwerpunkten Gesellschaft, Politik und Medien in Düsseldorf. Auch neben ihrem Studium ist sie begeisterte Beobachterin von Gesellschaft, Menschen und menschlichem Verhalten. Als Natur- und Tierliebhaberin hat sie den utopischen Wunsch, dass die ganze Welt ein Naturschutzgebiet ist. Ihr besonderes Augenmerk gehört denjenigen, die in unserer Gesellschaft keine Lobby haben und es schwerer haben, sich Gehör zu verschaffen.

Verena Siggelkow ist Wahlberlinerin und Künstlerin. Nach ihrer Ausbildung zur Illustratorin und grafischen Zeichnerin hat sie als Freiberuflerin im Bereich Stop-Motion gearbeitet und sowohl digital als auch analog eigene Illustrationen sowie Kinderbücher gestaltet. Aufgrund ihres Interesses an sozialen Themen, hat sie aufbauend das Studium der Sozialen Arbeit absolviert und setzt sich nun mit der Verbindung von Kunst, Kreativität und Selbstbestimmung auseinander.

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