Mann vor Hintergrund Landschaft

Schlüssel zur Freiheit

Die beste Hilfe entledigt sich selbst

Wenn man Verantwortung für eine Person übernimmt, die eigentlich in der Lage wäre, sie für sich selbst zu tragen, schafft man Abhängigkeiten. Wer wirklich helfen will, sollte dem anderen auf Augenhöhe begegnen. Hilfe zur Selbsthilfe lautet das Ideal.

 

 

„Es war, als wäre ich in einem offenen Gefängnis in einem fremden Land mit einer fremden Kultur, weit weg von meiner Familie. Alles ist da. Und ich kann nichts tun.“
(Nael Almagerbi)

August 2020

Am Anfang sind es ein paar belanglose Sätze bei Facebook über Pferde und darüber, wie sehr er diese Tiere mag und dass er reiten lernen will. Wie er schreibt, klingt poetisch und auch ein bisschen drollig. Ich merke schnell: Hier wird automatisch online übersetzt. Wir reden Belangloses und schließlich schreibt er, dass er helfen will: Flüchtlingen in Griechenland. Und den Menschen in seinem Land.
Am Tag darauf lässt Nael Almagerbi, 30 Jahre alt, aus Syrien und seit 2015 in Deutschland, Bilder für sich sprechen.
Er warnt mich vor.
„Kann ich Ihnen ein Video schicken? Es ist aber beängstigend. Die Szenen sind hart.“
„Klar“, antworte ich.
Tote Kinder, Hinrichtungen, Morde – malträtierte Menschen, leere Augen, verrenkte Gliedmaßen, ausgemergelte Körper. Blut. Wer online surft, kann Gewalt kaum entkommen. Nach dem Bild des kleinen Alan Kurdi am Strand von Griechenland fällt es schwer, mein Entsetzen noch zu toppen.

Es folgt ein Link zu YouTube. (1) Was ich dort sehe, trifft mich doch bis ins Mark: Ein junger Mann kämpft auf einem Häuserdach um sein Leben. Soldaten stellen ihn, treten und misshandeln ihn, brüllen ihn an, schießen aus nächster Nähe und automatischen Waffen auf ihn. Dann zeigt Nael mir Fotos und weitere Videos. Darauf: ein junger Mann. Kurz geschorenes Haar, abgemagert, blass, das rechte Bein von zahllosen Wunden entstellt, um ihn herum aufgeregte Menschen.

„Das bin beides ich“, schreibt er mir. Und dass Assad-Soldaten auf ihn geschossen, ihn misshandelt, vom Dach geworfen und anschließend fünf Monate lang gefangen gehalten und gefoltert haben, schwerverletzt. Das war 2012. Er kam schließlich frei. Die Familie floh von Syrien in den Libanon und von dort in die Türkei. Nael ist das einzige von acht Geschwistern, dem es gelungen ist, nach Deutschland zu kommen. Alle anderen samt Eltern leben in der Türkei, unter prekären Bedingungen.

Von Sachsen-Anhalt nach Baden-Württemberg

Nael wohnt in Magdeburg, als wir das erste Mal miteinander schreiben. Er geht putzen, abends in einem Fitnessstudio, tagsüber in einer Bank. Er lebt in einem Mietkomplex, hat kaum soziale Kontakte vor Ort, verdient wenig und der Staat zahlt zu. Wenn er rausgeht, trifft er sich mit syrischen Freunden, die über Studentenvisa in Magdeburg sind. Nachdem er ein bisschen Vertrauen gefasst hat, schreibt er mir, dass er eine Frau und eine kleine Tochter hat. Beide leben in der Türkei, bei seinen Eltern.

Es dauert, ehe ich die Zusammenhänge erkenne, warum er „nur“ putzt, obwohl er in Syrien studiert hat und ausgebildeter Klima- und Heizungs-techniker ist; bis ich umreiße, warum er auch nach fünf Jahren in Deutschland nicht von der Stelle kommt und davon überzeugt ist, dass seine Familie niemals zu ihm kommen können wird. Der „Knoten“, den Nael mir beschreibt, ist so massiv, die Gemengelage so unübersichtlich, dass mich seine Schilderungen erst ratlos machen. Wie wir es auch drehen und wenden mit unseren eingeschränkten sprachlichen Mitteln, Nael scheint in einer administrativen Falle zu sitzen, aus der es kein Entrinnen gibt.

Wo anfangen, wo aufhören?

Röntgenbild
Nael Röntgenbild Beine ©privat / Oben: Neal vor der Burg Teck ©Heike Pohl

Ein gordischer Knoten, den es zu durchschlagen gilt

Ich habe zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre Flüchtlingshilfe und knapp 30 menschliche Schicksale hinter mir; eine emotional anstrengende Phase, für die ich viel Lebenszeit gegeben habe.
„Wir schaffen das!“ Ja, denke ich, wir haben das geschafft. Alle gemeinsam. In Schleswig-Holstein, wo ich lebe, haben die Menschen zusammengehalten. Manchmal kamen auf einen Geflüchteten zehn Helfer:innen und mehr. Nun wollte ich durchatmen. Nach vorne und wieder mehr auf mein eigenes Leben schauen.
Da kommt Nael und schreibt, er liebe Pferde.

Seine Geschichte ist kompliziert. Ich halte es kurz. 2017, mehrfach operiert und halbwegs genesen, reist Nael in die Türkei zu seinen Eltern, heiratet in Istanbul seine große Liebe, zeugt ein Kind. Da er ohne Visum einreist und die türkische Polizei ihn aufgreift, folgt ein dreijähriges Einreiseverbot. Weil er denkt, er bekäme wegen seiner Reise Probleme mit den deutschen Behörden, erzählt er niemandem davon.
In seinem Kopf ist klar: Wenn die Deutschen erfahren, dass ich illegal in der Türkei gewesen bin, dann werde ich große Probleme mit meinem Aufenthaltsstatus bekommen. Er denkt, er werde  Frau und Kind niemals nach Deutschland holen können. Er fühlt, er wird hier niemals zuhause sein. Er resigniert. Das einsame Leben in diesem Land macht für ihn keinen Sinn. Und er weiß: Es gibt für ihn keine Alternative. Er kann nirgendwo anders hin.

Und so geht Nael putzen, wund an Körper und Seele. Hoffnungslos und ohne Perspektive. Sein Kind ist drei Jahre alt, als er es 2020 zum ersten Mal sieht und – diesmal mit einem Visum – von Magdeburg nach Istanbul fliegt.
Ich sehe die Bilder am Flughafen, das kleine Mädchen, das seinen Vater nicht kennt, das Angst vor ihm hat. Ich sehe Eltern und Geschwister, die weinen vor Glück. Und ihn, dem die pure Lebensfreude ins Gesicht geschrieben steht.

Und ich begreife: Es ist alles da. Es braucht nur Impulse.
Dieser Mensch hat Mut. Er hat Kraft. Er hat seinen Glauben. Er ist ehrgeizig. Er ist willensstark. Er hat die Hölle überlebt. Was ihm fehlt, ist eine Hand. Oder vielleicht auch zwei, die man ihm reicht.
Er muss ihn nur sehen können: Den Weg, den er dann selbst gehen kann.

Mann mit Pferd
Nael mit Pferd ©Heike Pohl

Ich bin aktiv bei Facebook und Teil eines wunderbar funktionierenden Netzwerkes. Gewachsen seit 2015, haben darin Menschen zusammengefunden, um andere zu unterstützen. Wir leben verteilt über die Republik, also überlege ich, wo für Nael die Chancen auf eine gute Zukunft am besten sind. Und frage ihn: „Kannst du nach Stuttgart ziehen?“

Dort habe ich viele Kontakte, kenne den Gründer einer Hilfsorganisation, habe ich Familie und Freunde. Die Jobchancen in Baden-Württemberg sind gut, Leute in seinem Beruf sind gefragt. Stuttgart ist bunt. Reich. Und für einen Mann wie Nael eine große Chance.

Ich weiß, er hat Angst. Nochmal ganz von vorne beginnen?
Er kennt dort keine Menschenseele. Und mich nur über Facebook, WhatsApp und Telefon. Und doch schlägt er ein, bange zwar, aber er sagt zu, er traut sich. Und mir. Und anderen.

Viele Menschen helfen mit. Der eine bei der Jobsuche, die andere bei der Unterkunft, wieder andere bei den Dingen, die notwendig sind, wenn ein Mensch bei null beginnt. Im April 2021 lässt Nael Magdeburg hinter sich und zieht nach Baden-Württemberg in ein Boardinghouse. Er hat einen Arbeitsvertrag als Klima- und Heiztechniker in der Tasche und große Ziele im Gepäck: Familiennachzug, Einbürgerungsantrag, Führerschein, Qualifikation im Beruf. Und den Mut und die Kraft, all das auch zu schaffen.

 

„Ich habe das Gefühl, dass mir die Türen der Welt geöffnet wurden.“

(Nael Almagerbi)

August 2022

Nael hat die deutsche Staatsbürgerschaft erlangt. Notwendig dafür sind eine Festanstellung, ausreichend Wohnraum, ein sicheres Einkommen, sehr gute Deutschkenntnisse und viel Wissen um unsere Demokratie. Der Visumantrag für seine Frau und seine kleine Tochter läuft. So Allah und die deutsche Bürokratie es wollen, sind beide bald hier.
Und er hat schon neue Ziele: Eine weitere Operation vielleicht, für sein zerschossenes und seither kaputtes Bein. Und Geschwister für seine Tochter Judy. Ein Auto, vielleicht. Und Weiterbildung in seinem Beruf. Und Nael hat einen großen Traum: Frieden für Syrien, Frieden für seine Familie und die Menschen, die er liebt.
Und Reiten lernen.

(Unser großer Dank geht an Serkan Eren und STELP e. V. und an alle lieben Köpfe und Herzen, die Nael auf seinem Weg unterstützt haben. Danke auch an seinen neuen Arbeitgeber. Er hat Nael eine Chance gegeben und der hat sie genutzt.)

(1) Quelle: YouTube, https://www.youtube.com/watch?v=QGvc2vdeKN0

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Heike Pohl arbeitet als freie Journalistin und Fotografin in Schleswig-Holstein. Geboren in Villingen-Schwenningen, folgte sie ihrer Arbeit von Stuttgart über München und Berlin an die Nordseeküste. Zwischenmenschliches, Politik, Gesellschaft, insbesondere auch die Thematiken Flucht/Geflüchtete, Rassismus, Holocaust sowie soziale Themen und das Leben auf dem Land gehören zu ihren inhaltlichen Schwerpunkten.

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