Bolsonarismus

Ó Patria Amada!

Brasilien und das Erbe des Bolsonarismus

Ab dem 1. Januar 2023 ist Lula da Silva offiziell Brasiliens neuer Präsident, doch Jair Bolsonaro hinterlässt das Land gespaltener denn je. Der Bolsonarismus hat Brasilien vergiftet, Hoffnung liegt in einer neuen Generation, die sich antifaschistisch, queerfeministisch und unverwüstlich zeigt.

Der 30. Oktober 2022 war ein wichtiger Tag für Brasilien und die Welt. In einem knappen Wahlsieg besiegte Luiz Inácio Lula da Silva der Arbeiterpartei PT den noch amtierenden Präsidenten Jair Bolsonaro. Die Wahl war eine „Schicksalswahl“ – viel stand auf dem Spiel: die Zukunft des Amazonas-Regenwaldes, die Landrechte indigener Menschen, die Sicherheit von Frauen und der queeren Community und die Abwendung des autoritären Backlash, den das Land in den letzten Jahren durchlebt hat. Heute ist Brasilien gespaltener denn je, denn der „Bolsonarismus“ hat sich tief in die Grundfeste des Landes gefressen.

„Bolsonaro raus“ ©Marlon Marinho

Ein gespaltenes Land

„Ich sehe ein sehr gespaltenes Brasilien mit einer Polarisierung, wie ich sie noch nie erlebt habe. Bei früheren Wahlen wurde man nicht so verurteilt, wenn man eine andere Meinung hatte. Heute urteilen beiden Seiten, auch ich, denn ich habe gesehen, wie einige Freund:innen dieses Mal die extreme Rechte unterstützt haben und das hat mich erschreckt“, erzählt mir Pablo, ein alter Schulfreund, heute Medizinstudent.

2016 lebte ich als Austauschschülerin ein Jahr lang in der Grenzstadt Ponta Porã im brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso do Sul und schloss Freundschaften, die bis heute bestehen. Wir haben in den letzten Jahren nicht viel über Politik gesprochen, doch nun schreibe ich meinen Freund:innen, möchte von ihnen erfahren, wie sie die letzten Jahre und die Wahl erlebt haben und was Lulas Sieg für sie bedeutet.

Klima der Angst 

„Ich erinnere mich, dass ich zur Zeit von Bolsonaros Wahlkampf 2018 Angst hatte. Angst, eine Frau zu sein, Angst um meine queeren und Schwarzen Freund:innen“, erzählt mir Sara, ebenfalls eine Schulfreundin, die heute Jura studiert. „Ich hatte schon davor Angst, eine Frau zu sein, in einen Uber zu steigen, allein auf die Straße zu gehen, allein mit einem Mann zu sein … das war immer da. Was sich nach der Wahl Bolsonaros geändert hatte, war, dass ich mich als Frau nicht respektiert fühlte, als ob die einfache Tatsache, eine Frau zu sein, mich zu einem geringeren Menschen machte. Ich fühlte mich in der Regierung Bolsonaros nie vertreten.“

So wie Sara ging es wohl vielen Frauen und queeren Menschen in den letzten Jahren. Dabei galt Brasilien lange als vorbildlich in Bezug auf die Rechte der LGBTQIA+-Community: Seit 2013 gibt es die Ehe für alle (zur Erinnerung: in Deutschland erst seit 2017), homosexuelle Paare dürfen Kinder adoptieren und trans Personen können ihr Geschlecht anpassen lassen. Als Jair Bolsonaro Brasiliens Präsident wurde, nahm die Gewalt gegen Frauen, queere Menschen, Afrobrasilianer:innen, Indigene und Aktivist:innen zu.

Demonstration ©Geancarlo Peruzzolo

Der Bolsonarismus

Unter Jair Bolsonaro erlebte Brasilien einen autoritären Backlash. Er etablierte eine Politik, die das politisch Unkorrekte salonfähig machte. Er schrieb sich die Bekämpfung der organisierten Kriminalität auf die Fahne, doch die Liberalisierung der Waffengesetze öffnete auch rassistischer Polizeigewalt die Türen. Bolsonaro wird auf internationaler Ebene vor allem für seine Klimapolitik kritisiert. Wegen der Missachtung der Menschenrechte der indigenen Bevölkerung wurde er beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angezeigt. Zudem sorgte Bolsonaros Corona-Politik für laute Kritik bis hin zu Impeachment-Forderungen: Seine politischen Gegner:innen gaben ihm wegen seines laschen Umgangs mit der Pandemie die Schuld an den über 600.000 Corona-Toten des Landes.

Der „Bolsonarismus“, das brasilianische Pendent zum „Trumpismus“, mit seinem politischen Klima voller Populismus, Konservatismus, Diskriminierung und Fake News, hat das Land vergiftet, so empfinden meine Freund:innen. Und er ist mit Lulas Wahlsieg nicht einfach verschwunden: Wenige Tage danach kursierte ein Video auf Instagram, aufgenommen in São Miguel do Oeste im Bundesstaat Santa Catarina: Hunderte von Menschen mit brasilianischen Flaggen – Bolsonaro-Anhänger:innen, von der brasilianischen Linken auch „Bolsonazistas“ genannt –, die die Nationalhymne sangen und den Arm zum Hitlergruß reckten. 

Die Verschwörung vom Wahlbetrug hält sich nach wie vor hartnäckig, besonders vor den Militärquartieren des Landes versammeln sich immer wieder Bolsonazistas zu Demonstrationen. Pablo findet das sehr gefährlich: „Wir haben gesehen, was in Italien mit dem Faschismus, in Deutschland mit dem Nationalsozialismus und hier in Brasilien mit der Militärdiktatur passiert ist. Ich bin der Meinung, dass wir zwar Liebe für unser Land empfinden sollten, aber übertriebener Patriotismus führt zu nichts.“

Kann es guten Patriotismus geben?

Pablo, Sara und auch meine beste Freundin Karen wählten als einzige ihrer Familien Lula. Politische Gespräche im Familienkreis führen sie seitdem keine mehr, um Konflikte zu vermeiden. Doch Brasilien lieben und unterstützen sie nach wie vor leidenschaftlich, was ich mit meiner – historisch bedingten –antipatriotischen Haltung erst verstehen lernen muss.

„Ich betrachte mich als patriotisch in dem Sinne, dass ich mein Land liebe, aber nicht im Sinne einer politischen Ideologie“, erklärt mir Sara. „Für mich ist Patriotismus das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Nation, einer Kultur, einer Geschichte, Werten und Überzeugungen“, ergänzt Karen. Den Patriotismus, den die Faschist:innen für sich vereinnahmen, lehnen beide ab, doch die Liebe für ihr Land, die scheinen sie als transformative Kraft zu verstehen. Ich bin immer noch skeptisch, doch ich spüre den Wunsch und Wille nach Veränderung, der in dieser Liebe mitschwingt.

Brasiliens Zukunft ist jung, feministisch und unverwüstlich 

Der Bolsonarismus wird nicht verschwinden, wenn Luiz Inácio Lula da Silva am 1. Januar 2023 die Regierung übernimmt. Brasilien ist gespaltener denn je und auf Lula warten große Herausforderungen: Es gilt, zahlreiche schädliche politische Entscheidungen Bolsonaros rückgängig zu machen, die internationale Zusammenarbeit wieder zu stärken und rund 214 Millionen Menschen miteinander zu versöhnen. Doch Lulas Siegesrede an jenem 30. Oktober macht Hoffnung: Niemand wolle in einem gespaltenen Land leben, sagte Brasiliens zukünftiger Präsident und verpflichtete sich, Armut, Gewalt gegen Frauen und Indigene, Rassismus und die Abholzung des Amazonas zu bekämpfen.

Als Sara sich das nächste Mal bei mir meldet, ist sie gerade aus São Paulo zurückgekehrt. Sie erzählt mir in einer Sprachnachricht begeistert von der Pro-Lula-Stimmung in Brasiliens größter Stadt und vom Harry-Styles-Konzert, das sie dort besucht hat. „Fuck Bolsonaro“ hätten alle im Publikum gerufen, junge, feministische, queere Menschen. Saras Stimme überschlägt sich beinahe vor Begeisterung. Vielleicht ist das hier Brasiliens Zukunft, eine neue Generation, die sich positioniert, gegen Diskriminierung eintritt und mit der ganzen Welt vernetzt ist. Eines Tages werden sie Brasiliens Politik mitbestimmen. 

Sara, Karen und Pablo sind voller Hoffnung für ein neues Brasilien unter Lula. Sie wünschen sich eine bessere Sozialpolitik, die die großen Probleme des Landes angeht: Armut, Arbeitslosigkeit und die Konsequenzen der finanziellen Kürzungen für Bildung, Gesundheit und Wissenschaft durch Bolsonaro. Ich bin voller Hoffnung für Brasilien, in dem Wissen, dass dieses Land großartige politische, kritische und mutige Menschen wie meine Freund:innen hat. „Wir überstehen einen Tag nach dem anderen mit der Unverwüstlichkeit, die Teil der brasilianischen Identität ist“, sagt Karen und es ist eben diese Unverwüstlichkeit, die es Brasiliens Menschen ermöglichen wird, sich einander wieder anzunähern.

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Amelie Fischer (sie/ihr) studiert in Lüneburg Politikwissenschaft und Nachhaltigkeitswissenschaften.

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