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Grenzen der Vielfalt

Der Meinungspluralismus und das Gemeinwohl

Die Vielfalt der Meinungen, um damit die Pluralität in der Demokratie zu schützen, kommt nicht ohne ihre Grenzen aus. Diese brechen von zwei Seiten ein: Zum einen über die grundrechtlich garantierte Freiheit auf die eigenen Ansichten, welche Ausdruck der Würde der Person ist, die umgekehrt in Meinungsäußerungen nicht unterlaufen werden darf, zum anderen über die Bedingungen des Miteinanderlebens in einer Gemeinschaft, welche ohne einen Maßstab für das öffentliche Handeln nicht auskommt; dieser liegt in der Orientierung am Gemeinwohl. 

Die Vielfalt der Meinungen ist eine unabdingbare Grundlage der Demokratie. Diese drückt unmittelbar die Unterschiedlichkeit der einzelnen Menschen aus, die innerhalb einer Rechtsordnung zusammenleben. Nach den Werten, wie sie vor allem die ersten 19 Artikel des Grundgesetzes bekunden, kommt es auf jede und jeden einzelnen an, denen darin Unverwechselbarkeit und Einzigartigkeit zugesprochen wird. Alle, unabhängig davon, wie weit sie sich voneinander persönlich unterscheiden mögen, sind gleich und in ihren Ansichten, Meinungen und Werthaltungen frei. Keine und keiner darf dahingehend eingeschränkt werden, jede Benachteiligung, die daraus entstehen könnte, ist untersagt. Der Staat hat nicht nur alles zu unterlassen, wodurch er seine Bürgerinnen und Bürger in der Freiheit ihrer Meinungen einengen könnte, er muss ebenso darauf achten, grundsätzliche Rahmenbedingungen zu gewährleisten, welche verhindern, dass innerhalb der Öffentlichkeit bestimmte Ansichten ausgegrenzt werden.

 

»In der Demokratie sind wir gezwungen, etwas anerkennen zu müssen, von dem wir gleichzeitig annehmen dürfen, dass der darin ausgedrückte Sachverhalt, das Werturteil, seine Voraussetzungen und Folgen unrichtig, schädlich, schlecht oder hässlich ist.«

Nun drücken persönliche Ansichten Unterschiedliches aus: Meinungen bestehen in Bezug auf Sachlagen, sie formulieren bestimmte Interessen, sie bestehen in Urteilen darüber, was man für wahr, schön, gut und richtig hält, sie verorten die eigene Person, fällen aber auch Urteile über andere Menschen, sie können politische Richtungen vertreten, und sie werden vielfältig Meinungen widersprechen, die andere hegen. Es kommt im öffentlichen Raum zu Meinungsverschiedenheiten, zum Streit, vielleicht sogar zum Kampf um Meinungen, je nachdem, wie groß die Reichweite ist oder welche Konsequenzen daraus folgen. 

Wir müssen uns klarmachen, dass diese Folge der Meinungsdifferenz keineswegs nur faktisch besteht, sondern dass diese ausdrücklich gewünscht ist, also normativer Bestandteil der Demokratie ist. Eine Meinung zu haben und haben zu dürfen, akzeptiert, dass andere eine davon verschiedene Ansicht haben und haben dürfen. Das ist manchmal schwer zu ertragen; denn schließlich sind wir von unseren Meinungen überzeugt, d. h. wir halten diese für richtig. Daraus folgt, dass abweichende Meinungen aus unserer Sicht falsch sind. In der Demokratie sind wir also gezwungen, etwas anerkennen zu müssen, von dem wir gleichzeitig annehmen dürfen, dass der darin ausgedrückte Sachverhalt, das Werturteil, seine Voraussetzungen und Folgen unrichtig, schädlich, schlecht oder hässlich ist. Wieso aber soll sich der Staat, wieso soll ich mich selbst sogar für etwas einsetzen, das letztlich abzulehnen ist?

 

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Foto: ©Andrea Piacquadio

»Bereits der niederländische Philosoph Baruch de Spinoza insistierte darauf, dass die Freiheit der Meinung und ihre freie Äußerung die Stabilität der Staatsordnung mehr erhöhten als ihre Einschränkung.«

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Foto: ©Alex Green

Dieser Widerspruch ist leicht aufzulösen: Dazu müssen wir uns allerdings darüber im Klaren sein, dass wir für unsere Meinungen gar nichts können. Gut, wir können uns informieren – was voraussetzt, dass wir bereit sind, noch nicht berücksichtigte Sachverhalte zur Kenntnis zu nehmen, und dass wir fähig sind, einen anderen Blickwinkel dazu einzunehmen. Dennoch wird, bei allem argumentativ betriebenen Aufwand, um andere von unseren Ansichten zu überzeugen, ein letzter Rest von Unverfügbarkeit in der eigenen Meinung zurückbleiben. Die Gründe dafür sind so vielfältig, wie sie uns zu weit vom Thema abführen würden; sie sind aber offensichtlich nicht von den Tatsachen abhängig, die entweder für sich geklärt werden können oder wenigstens methodisch dahingehend, dass wir uns einigen, wie deren Richtigkeit festgestellt werden kann. Wir können daraus folgern, dass das Unerklärliche an unseren Meinungen in Werthaltungen liegt, die sich unabhängig davon, wie die Welt ist, darauf stützen, wie wir die Welt sehen. 

Den Wert der Meinungsfreiheit erkennen wir dann, wenn wir durch einen Blick in die Geschichte erfahren, dass diese lange Zeit nicht gesichert war. Zwar wiesen verschiedene Denker der Aufklärungszeit darauf hin, dass ohnedies niemand einem anderen Menschen in den Kopf sehen könnte („die Gedanken sind frei“), aber bereits der niederländische Philosoph Baruch de Spinoza insistierte darauf, dass die Freiheit der Meinung und ihre freie Äußerung die Stabilität der Staatsordnung mehr erhöhten als ihre Einschränkung. Freilich ging es damals um die Religion, für die Spinoza die Toleranz ihrer Ausübung forderte. Aber die Glaubensüberzeugungen sind ein gutes Beispiel dafür, dass Unterschiedliches für wahr gehalten werden kann. Nach damaliger Ansicht untergraben Glaubens- und Meinungsfreiheit die Einheit der staatlichen Ordnung, weil diese zu Streit und Uneinigkeit führen. Nach Spinoza besteht der Konflikt aber ohnehin, weswegen es nichts bringt, diesen zu verbieten. So hielt er es für sinnvoller, dass wir über Ansichten auch streiten dürfen.

 

»Meinungsäußerungen können vielfach Folgen haben, die nicht einfach durch eine allgemeine Freiheit, seine Ansichten äußern zu dürfen, gerechtfertigt werden können.«

Dieses Beispiel aus dem Holland des 17. Jahrhunderts zeigt noch eine weitere Facette der Meinungsvielfalt: Wir haben diese Ansichten nicht nur, sondern wir äußern diese erstens öffentlich, zweitens handeln wir danach. Wenn wir für unsere Meinungen selbst nichts können, so sind wir allerdings ganz sicher dafür verantwortlich, was wir reden oder tun. Nun ist die Meinungsäußerung auch rechtlich geschützt, allerdings schon etwas weniger als die Tatsache, eine Meinung zu haben. Hier kommt es immer auf die Umstände an: John Stuart Mill, dem die Meinungsfreiheit schier über alles ging, hielt es für erlaubt, Getreidehändler als Wucherer zu bezeichnen. Allerdings wollte er eine solche Äußerung verbieten, wenn sie gegenüber einer aufgebrachten Menge vor dem Haus eines Getreidehändlers kundgetan wird. Wir ersehen daraus, dass Meinungsäußerungen vielfach Folgen haben können, die nicht einfach durch eine allgemeine Freiheit, seine Ansichten äußern zu dürfen, gerechtfertigt werden können. Mills Beispiel ist sicher etwas plakativ, denn oftmals können wir nicht wissen, welche Folgen unsere Meinungsäußerungen haben. Manchmal aber eben doch!

Nun besteht die Frage, ob es ein allgemeines Kriterium dafür gibt, zu bestimmen, in welchem Rahmen Meinungsäußerungen gerechtfertigt sind und wann solche die Grenzen überschreiten, sodass diese vielleicht nicht mehr toleriert werden können. Die Schwierigkeit besteht darin, dass die Forderung, eine bestimmte Äußerung zu unterlassen, nicht zu einem Verbot der dahinterstehenden Meinung führen kann, deren Vorliegen wir grundsätzlich schützen wollen – selbst, wenn sie unserer Ansicht nach sogar in einem unerträglichen Maße zuwiderläuft. 

Von der geforderten Intoleranz gegenüber anderen Meinungen werden am wenigsten solche betroffen sein, die deutlich machen, dass es sich bloß um eine Meinung, eine persönliche Ansicht handelt. Aber Meinungen können auch Interessen oder Urteile über andere Menschen beinhalten sowie Forderungen aufstellen oder implizit vermitteln. Im Grunde kann nichts davon ohne weiteres illegitim sein. Eine harte Grenze müsste jedoch an der Linie bestehen, an welcher der Inhalt einer Äußerung in irgendeiner Weise die grundsätzliche Meinungsfreiheit für andere einschränken soll. Das gilt vor allem für solche Ansichten, welche anderen Menschen absprechen, eine Meinung haben zu dürfen, weil dies nicht nur die Freiheit zu denken und zu reden unzulässig einschränkt, sondern die Würde und Eigenständigkeit der Person selbst angreift. Zugegeben ist es manchmal schwierig zu bestimmen, ob eine Äußerung diese Folge tatsächlich nach sich zieht – manchmal aber ist auch das eindeutig! Dann aber sind Meinungsäußerungen auszugrenzen und nicht zu tolerieren, weil sie die Meinungsfreiheit selbst untergraben.

 

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Foto: ©Sora Shimazaki

»Es hilft, politische Äußerungen daraufhin zu prüfen, ob diese tatsächlich ausnahmslos für alle gut sind; wenn nicht, sollten wir sie nicht mehr als demokratische Meinung tolerieren.«

Im Rahmen der Demokratie gibt es noch ein weiteres Kriterium, zu beurteilen, ob eine öffentlich getätigte Äußerung und insbesondere politische Forderungen gerechtfertigt sind: Wenn es nämlich um die öffentliche Ordnung geht, können persönliche Interessen und Ansichten nur insoweit legitim sein, als diese ausdrücklich auch das Gemeinwohl, und d. h. das Interesse aller anderen, berücksichtigen – und das unabhängig davon, was man selber für richtig, vernünftig, geboten, gut oder angemessen hält. Es hilft, politische Äußerungen daraufhin zu prüfen, ob diese tatsächlich ausnahmslos für alle gut sind; wenn nicht, sollten wir sie nicht mehr als demokratische Meinung tolerieren. Auch hier schränken wir die Vielfalt ein, nur allerdings, um diese zu schützen!

 

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Günter Fröhlich ist Prof. für Philosophie in Regensburg. Sein Buch "Der Weg der Demokratie" erscheint im Herbst 2022 bei Felix Meiner in Hamburg.

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