Einwohnerzahl und Armut im Verhältnis BRD,Griechenland,Portugal

Die vergessenen Millionen

Menschen in Armut und Prekarität

Wenn Menschen in Deutschland an Armut denken, sehen sie vor ihrem inneren Auge vermutlich Bilder, die Extremsituationen zeigen. Kinder mit dreckiger Kleidung, heruntergekommene Viertel, wohnungslose Personen. Armut fängt aber früher an, und Menschen, die in Armut oder Prekarität leben, werden bei Teilhabe oft nicht mitgedacht.

Hamburg, Stadt der Einkommensmillionär:innen. Laut einer dpa-Meldung vom Mai 2022 hatten 2018 zwölf von 10.000 Personen in der Freien und Hansestadt Jahreseinkünfte oberhalb der Millionengrenze. Hamburg ist aber auch Stadt der prekären Lebensverhältnisse. Der Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbandes vermeldet für 2021 einen Anstieg der Armutsquote in der Coronapandemie auf 17,8 Prozent.

Um das ins Verhältnis zu setzen: Hamburg hat derzeit eine Anzahl von rund 1,79 Millionen Einwohner:innen. 17,8 Prozent davon sind rund 318.294. Dem gegenüber stehen, gerechnet auf die Grundgesamtheit, rund 2.154 Einkommensmillionär:innen. Eine Zahl, die deutlich geringer ist – und dennoch beschäftigt sich die Öffentlichkeit mehr mit ihnen als mit den Menschen, die in Armut und Prekarität leben.

Lina

Immer noch Hamburg, es ist der 19. Mai 2022. Während sich im Cinemaxx am Dammtor die ersten Teilnehmenden des emotion Women’s Day an der Anmeldung registrieren und ihre Tagungsmappen in die Hände gedrückt bekommen, bereitet sich Lina* auf ihren Arbeitstag vor. Sie sitzt in einem nicht weit vom Dammtor entfernten Drogeriemarkt stundenweise an der Kasse. Selbst wenn Lina an diesem Tag nicht arbeiten müsste, ginge die Wahrscheinlichkeit, dass sie an einer Veranstaltung wie dem emotion Women’s Day teilnehmen würde, gegen Null. Vermutlich weiß Lina nicht einmal, dass es eine solche Veranstaltung gibt. Nach der Begrüßung durch Founder & Editorial Director von emotion, Dr. Katarzyna Mol-Wolf, folgen im Cinemaxx Keynotes von Sara Nuru, Model und Unternehmerin, sowie von Künstlerin und Aktivistin Énissa Amani. Weitere zahlreiche kluge Frauen finden sich im Programm. Einer der wenigen Männer ist Olivier David, Journalist und Autor des Buches „Keine Aufstiegsgeschichte“. David ist gemeinsam mit Niki Schilling, Director Innovations & Sustainability bei der Kosmetikfirma Rituals, Teil des Panels „Von jetzt an gut – Warum wir Mental Health mehr Raum geben müssen“.

 

Bild vom Cinemaxx
Cinemaxx am Dammtor © Dr. Nadine Beck/ Oben: Verhältnis Armut in der Bevölkerung der BRD zu Griechenland, Portugal © Luise Krank

Ein sehr wichtiges Thema, allemal seit der Erfahrung der letzten beiden Pandemiejahre. Dennoch scheint es, als fänden dort auf der Mainstage der Veranstaltung zwei nahezu isolierte Geschichten statt. Denn während Niki Schilling über Hotlines berichtet, an die sich Mitarbeitende bei Rituals im Falle von mentaler Belastung wenden können, und davon, dass sie inzwischen nicht mehr belächelt werde, wenn sie ein Meeting mit einer fünfminütigen Meditationsübung starte, berichtet Olivier David von der mentalen Belastung seiner Schwester in der Pandemie: alleinerziehend und, wie er selbst auch, in Armut aufgewachsen und nach wie vor in prekären Verhältnissen lebend. „Für die einen geht es bei Mental Health darum, präventiv die Leistungsfähigkeit ihrer Mitarbeitenden zu sichern. Für andere geht es darum, wie sich die soziale Lebenssituation, in der sie sich befinden, in der sie vielleicht aufgewachsen sind, auf ihre Gesundheit auswirkt“, sagt David. Besonders vom Thema Mental Health betroffen sind Frauen, um sie geht es an diesem Tag im Cinemaxx.

Frauen in Prekarität

Gleichzeitig hat die Perspektive auf die soziale Klasse jedoch bei der Veranstaltung wenig Raum, und das, obwohl auch hier Frauen im Zentrum der Betrachtung stehen sollten. Bundesweit gilt: Im Jahre 2020 wiesen Frauen eine deutlich höhere Armutsquote auf als Männer (16,9 Prozent vs. 15,3 Prozent). Dabei sind besonders viele Frauen von Altersarmut betroffen, das Ergebnis eines Musters: Klassischerweise kümmer(te)n sich Frauen eher um die Kinderbetreuung und waren/sind allenfalls in Teilzeit erwerbstätig, oft nur geringfügig beschäftigt. Wenn für sie auch im Zuge ihrer Partnerschaft nicht vorgesorgt wurde, standen und stehen sie noch heute finanziell häufig im Regen, insbesondere wenn sie zu Alleinerziehenden werden. Oftmals geht dies auch mit geringerer Schul- und beruflicher Bildung einher, was es noch schwieriger macht, eine Erwerbstätigkeit zu finden, die ein geregeltes und hinreichendes Einkommen sichert. Gleichzeitig gilt, was Francis Seeck in „Zugang verwehrt“ beschreibt: „Wer arm geboren wird, bleibt meist arm, und wer reich geboren wird, bleibt reich […]. In Deutschland dauert es im Schnitt sechs Generationen, bis Personen aus einkommensarmen Familien das Durchschnittseinkommen erreichen.“

Infographic @Louise Krank

Vergleichsgröße: Griechenland oder Portugal, mitten in Deutschland

Meist haben Menschen, die mit dem Begriff Armut konfrontiert werden, Bilder bettelnder Wohnungsloser im Kopf und vermuten die Gesamtzahl derer, die von Armut oder Prekarität in Deutschland betroffen sind, deutlich geringer, als sie tatsächlich ist. „Gedacht wird da meistens an die, die in extremer Armut leben“, beschreibt David. „Leider wird bislang in den Medien zu selten differenzierte Armutsberichterstattung geleistet.“ Die Realität ist: Die Zahl derer, die in Deutschland derzeit in Armut oder Prekarität leben, entspricht in etwa der aller Personen, die in Griechenland leben. Oder in Portugal. Ja, aller. Glauben Sie nicht? Hier die konkreten Zahlen: Derzeit hat die Bundesrepublik Deutschland rund 83 Millionen Einwohner:innen. Der aktuelle Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung beziffert die Anzahl derer, die in Armut oder Prekarität leben, auf elf Prozent bzw. 5,9 Prozent. In ganzen Zahlen beläuft sich dieser Anteil an der Gesamtbevölkerung der BRD also auf etwa vierzehn Millionen – und das sind rund vier Millionen mehr Menschen, als in Griechenland oder Portugal leben. Dennoch ist eine Vielzahl dieser vierzehn Millionen für die restlichen knapp siebzig Millionen nahezu unsichtbar.

Teilhabe muss sich eine:r leisten können

Oliver David
Journalist und Autor Olivier David, © Jan Lops

Veranstaltungen wie der emotion Women’s Day sind gut, wichtig und richtig. Sie geben Frauen die Möglichkeit, sich über ihre Anliegen auszutauschen, sich gegenseitig zu unterstützen und an der feministischen Sache teilzuhaben. Doch diese Teilhabe muss eine:r sich erst einmal leisten können. Feminismus intersektional zu denken, also im Verwobensein unterschiedlicher Merkmale, die Menschen ausmachen und derentwegen sie Ausgrenzung erleben, ist eine zentrale Forderung unserer Zeit, und das zu Recht. Intersektionalität war dementsprechend auch Bestandteil vieler Keynotes und Kommentare der Speaker:innen bei der Veranstaltung in Hamburg. Allerdings scheint es, als würde Klassismus, die Diskriminierung aufgrund der tatsächlichen oder zugeschriebenen sozialen Klasse also, hier nur selten mitgedacht. Denn wie sollen Personen in prekären Verhältnissen Zugang zu Veranstaltungen wie dieser erhalten? 

Das fängt beim Ticketpreis und eventuellen Kosten für die Anreise an, geht über die Frage der zur Verfügung stehenden Zeit und bis dahin, ob die Person sich überhaupt aus den Alltagsaufgaben herausziehen kann, beispielsweise aus der Kinderbetreuung. Und es endet nicht erst bei der Frage, wie relevant eine solche Thematik überhaupt sein kann, wenn Alltagsfragen zu klären sind, die für viele der klassischen Teilnehmenden an solchen Veranstaltungen selten auf der Tagesordnung stehen: Wie soll das Geld bis zum Monatsende reichen? Wie regelt eine:r die Kinderbetreuung bei Erkrankung? Wie lässt sich im nahezu undurchdringlichen Behördendschungel das richtige Antragsformular für die Finanzierung oder wenigstens einen Zuschuss zur kaputten Waschmaschine finden? Die Bank beruhigen, die einmal mehr droht, das Konto zu kündigen? Oder gar den Stromanbieter, den eine:r erneut nicht hat bezahlen können? „Es fehlt in weiten Teilen der Gesellschaft ein Bewusstsein darüber, was Armut oder Prekarität konkret bedeutet“, erklärt Olivier David. „Das wird sich dann ändern, wenn die Menschen, die ihre eigene Geschichte erzählen können, den Raum erhalten, sie auch erzählen zu dürfen. Und wenn wir auch die grundlegenden strukturellen Bedingungen ernsthaft in Frage stellen, die genau solche Geschichten nach wie vor erzeugen.“

Eine wichtige Veränderung, die wir alle miteinander machen können, ist: weniger über und mehr mit dem Menschen reden, die von Armut und Prekarität betroffen sind, und verstehen, was ihre Lebensrealität bedeutet. Nicht nur, aber auch die von Lina.

*Bei Lina handelt es sich um eine erfundene Person, die beispielhaft für zahlreiche geringfügig Beschäftigte in Hamburg und anderen Städten Deutschlands steht.

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Claudia Salowski, geboren 1974, studierte Politikwissenschaft sowie Neuere deutsche Literatur & Medien an der Philipps-Universität Marburg.
Foto: Anna Scheidemann

Louise Krank, M. A. Kommunikationsdesign, ist selbstständige Designerin und Illustratorin. Gemeinsam mit ihrem Mann Giorgio Krank bilden sie ein Kollektiv für Fotografie, Illustration und Kommunikationsdesign. Darüber hinaus publizieren sie eigene freie Projekte künstlerischer und politischer Natur.

Foto: ©Giorgio Krank

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