Deutschland, wir haben ein Problem

Das Bildungssystem am Limit

Carolin von St. Ange beschäftigt sich seit Jahren mit den Auswirkungen der Bildungspolitik und zeigt auf ihrem Instagramkanal Strategien für Lehrpersonen und Eltern auf, um Missständen entgegenzuwirken. Dafür hat sie in diesem Jahr den Goldenen Blogger Award sowie den Emotion Award für Soziale Werte erhalten. Hier verrät sie, wo die konkreten Zusammenhänge von Bildung und Demokratie sind und was sich grundlegend verändern müsste.

Wir sind aktuell im dritten Winter seit Ausbruch der Pandemie und es scheint allmählich wieder Normalbetrieb an den Schulen einzukehren – Schulschließungen, Masken- und Testpflicht, Abstandsregeln und fehlender Sport- oder Musikunterricht sind passé. Es kann also wieder weitergehen wie gehabt, und das tut es auch. Zum einen können alle Beteiligten ein wenig aufatmen, andererseits erscheint diese Leichtigkeit aber auch trügerisch. Es lässt sich nämlich nicht einfach dort anschließen, wo die Normalität aufgehört hat. Dass die Schülerinnen und Schüler in den Lockdowns mit Schulschließungen mehrere Wochen Unterricht verpasst haben, findet politisch wenig Beachtung. Zumindest gibt es keine offizielle Änderung in den Lehrplänen, die ein Aufholen der möglichen Defizite vorsieht. Es gab ja auch Homeschooling, klar. Aber in vielen Familien war es nur schlecht oder gar nicht möglich den Lernstoff auf diesem Weg vermittelt zu bekommen. Zum Teil lag dies an fehlender technischer Ausrüstung oder Überlastung der Plattformen, zum Teil an fehlender Unterstützung durch die Eltern, sei dies aufgrund mangelnder Zeit- oder Sprachkapazitäten. Einigen Kindern fehlt somit faktisch ein halbes Schuljahr. Laut Angabe des Deutschen Schulportals sind es pro Klasse zwei bis drei Schüler:innen, die Lernrückstände haben, in jeder fünften Klasse sogar bis zu sechs Personen. Ein Aktionsprogramm der Bundesregierung namens „Aufholen für Kinder und Jugendliche nach Corona“ verfügt über eine Milliarde Euro, um Defizite der Heranwachsenden auszugleichen. Zum Vergleich: Acht Milliarden Euro gab es allein für die Rettung der Lufthansa.

Sichtbare Folgen: soziale Defizite, Lernrückstände und Gewalt gegen Kinder

Kinder in Deutschland waren über Wochen abgeschnitten von ihren sozialen Kontakten und Freizeitaktivitäten. Zum Teil waren Spielplätze und Sporthallen gesperrt, das Bewegungspensum somit deutlich eingeschränkt, kulturelle Projekte und Jugendtreffs waren ebenfalls geschlossen, Kinder und Jugendliche isoliert. Viele waren allein mit ihren Ängsten, Sorgen und Nöten, die sich ja auch durch die Themen der Pandemie inhaltlich verändert haben. Im Sozialverhalten zeigen Kinder nun deutliche Lücken und auch hier reagiert das Bildungssystem nicht. Ein Kind, das aus einer mehrtägigen Quarantäne in den Schulbetrieb zurückkehrt, wird dort sofort wieder in den normalen Alltag integriert, hat zum Teil acht bis zehn Schulstunden zu absolvieren und Lernrückstände aufzuholen. Vielleicht wäre aber ein Gespräch mit Freund:innen das, was an dieser Stelle dringend gebraucht würde, oder ein bisschen Bewegung an der frischen Luft? Dafür gibt es schon allein personell wenig bis keine Kapazitäten.

 

 

„Die Auswirkungen der letzten Monate lassen sich aber auch nicht mit einem Spaziergang beheben. Jetzt wird deutlich, dass die Gewalt gegen Kinder im Jahr 2020 um zehn Prozent anstieg, sexuelle Missbräuche verzeichnen sogar einen Anstieg um 50 Prozent.“

Die Auswirkungen der letzten Monate lassen sich aber auch nicht mit einem Spaziergang beheben. Jetzt wird deutlich, dass die Gewalt gegen Kinder  im Jahr 2020 um zehn Prozent anstieg, sexuelle Missbräuche verzeichnen sogar einen Anstieg um 50 Prozent. Die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher liegen, wie Expert:innen warnen. Kinderpsychiatrien und Beratungsstellen sind mit einem starken Anstieg von Essstörungen, Angststörungen, Mediensucht und Suizidgedanken konfrontiert. Ein Termin zur Behandlung wird im Regelfall mit einer Wartezeit von neun bis zwölf Monaten veranschlagt.

Jugendliche leiden unter Angst und fühlen sich politisch ohnmächtig

Auch auf die Demokratie hat die Pandemie eindeutige Folgen bei Jugendlichen zu verzeichnen: Eine Studie der Uni Hildesheim zeigt, dass die Mehrheit der Befragten den Eindruck hat, nicht auf politische Entscheidungen Einfluss nehmen zu können. Zudem zeigen sich deutliche Einschränkungen in Bildung und Freizeit sowie dem Lernverhalten. Die Angst vor der Zukunft hat sich 2021 erhöht und mehr als ein Fünftel der Befragten sagen, dass sie ein professionelles Hilfs- und Beratungsangebote bräuchten, aber kein entsprechendes Angebot erhielten.

Lerncoach Caroline von St. Ange gibt Tipps auf Instagram

Die Lernexpertin Caroline von St. Ange überraschen derartige Entwicklungen nicht. Sie beschäftigt sich seit Jahren mit dem Schulsystem und den Auswirkungen auf Kinder, die sie schon vor der Pandemie bedenklich fand. Auf ihrem Instagramkanal @learnlearning.withcaroline  folgen ihr über 100.000 Personen und erst kürzlich wurde sie mit dem Emotion Award für Soziale Werte sowie dem Goldenen Blogger Award 2022 ausgezeichnet.

Caroline hat einige Kritikpunkte am staatlichen Schulsystem und bloggt täglich über die Missstände. Auf der anderen Seite zeigt sie aber auch mit viel Herz und Kreativität Wege auf, die Lehrpersonen, Kinder und Eltern selbst anwenden können, um in kleinen Schritten das System zu verändern oder darin klarzukommen.

Frau steht vor einer Wand,
Caroline von St. Ange ©privat // Oben: Schulsituation ©Arthur Krijgsman by pexels.com

Notengebung und Leistungsdruck als Hauptursachen von Problemen

Carolines Hauptkritik zielt auf das Noten- und Bewertungssystem der Schulen ab. In ihren Augen führt dieses zu einer allgemeinen Haltung, die es schwer macht, Fehler zu verzeihen. Das Streben nach Perfektion und Qualität hält Caroline zwar einerseits für etwas Gutes, es birgt aber auch eine Angst vor dem Scheitern und damit erschwert es den Versuch neuer Dinge. Sie wünscht sich einen anderen Geist in der Schule, der wegkommt von „guten“ und „schlechten“ Schüler:innen und stattdessen eine Mentalität einführt, in der gesagt wird: „Du kannst das NOCH nicht.“ Fast wie ein Mantra wiederholt Caroline den Satz in ihren Posts und Storys. Lehrkräfte sollen ermutigt werden, ihre Klassen damit zu füllen, aber auch Eltern können ihre Kinder damit positiv beeinflussen. „Es macht einen fundamentalen Unterschied, ob jemand denkt, dass man etwas nicht kann, oder ob es einfach noch ein bisschen Zeit und Übung braucht, bis es klappt“, so Caroline. Auf ihrem Profil teilt sie auch immer wieder Rückmeldungen, die diese These bestätigen.

Ein weiteres Problem sieht Caroline, die selbst Philosophie und Linguistik studiert hat und seit 17 Jahren mit Kindern arbeitet, in der Notengebung. „Noten versuchen, etwas vergleichbar zu machen, was nicht vergleichbar ist. Sie beenden den Lernprozess und geben dem Kind keine handlungsorientierte Rückmeldung, damit es weiß, was es beim nächsten Mal besser machen kann. Ganz im Gegenteil: Eine gute Note macht schnell überheblich, eine schlechte demotiviert“, so die Lernexpertin. Außerdem stehle das Prozedere den Lehrkräften sehr viel Zeit, die sie in die Lerninhalte und das Ausprobieren von Strategien und Methoden stecken könnten.

Betrachtet man das Wort „Lehrer“ etymologisch, so wird die Bedeutung erklärt mit „einer, der durch Nachspüren wissend macht“. Es ist also ein Verständnis, das schon der Philosoph Sokrates vertrat, als er mit seiner mäeutischen Methode zeigte, wie man durch geschicktes Nachfragen jeden Menschen zu hohen Erkenntnissen bringen kann. Doch diese Methode braucht vor allem eines: Ruhe. Und Ruhe erfordert Zeit und Gelassenheit – beides Mangelware im staatlichen Schulalltag.

Screenshot Instagram Account
Screenshot Instagram Caroline von St. Ange

Projekte wie der „Frei-Day“ wecken die Lust zu lernen

Es braucht ein gutes Gespür, um die Themen der Schüler:innen zu begreifen. Diese sind unter anderem die Klimakrise und die vorherrschende soziale Ungerechtigkeit in Deutschland. „Wenn die Schüler:innen denken, dass das, was sie in der Schule lernen, nichts mit ihrer Realität zu tun hat, dann wissen sie auch nicht, wofür sie es lernen sollten“, so berichtet Caroline. Sie empfiehlt daher jeder Schule den „Frei-Day“, ein Projekt, das es den Kids ermöglicht, in eigen gewählten Projekten Themen zu erforschen, die sie interessieren. Einige Schulen sind bereits Teil des Programms. „Es ist für die Kinder super, wenn sie erfahren, dass es Sinn macht, was sie lernen, dann gehen sie auch gerne zur Schule“, so Caroline. „Und wenn man dann mal eine E-Mail an den Bürgermeister schreibt, dann passt man in der nächsten Rechtschreibstunde auch besser auf, weil man gemerkt hat, dass es toll ist, wenn man da keine Fehler macht.“ 

Programme wie diese denken den Inklusionsgedanken richtig groß: Wirklich alle können miteinbezogen werden, ein Gemeinschaftsgefühl entsteht und somit auch eine Zugehörigkeit zur eigenen Schule. Das sei identitätsstiftend und wichtige Themen wie Rassismus und Klassizismus kämen ganz automatisch zur Sprache, so erläutert Caroline.

Warum gibt es keine Bildungsgleichheit?

Als größten Fehler sieht die Bildungsexpertin an, dass in punkto Bildungsgleichheit nichts passiert. Brennpunktschulen bräuchten mehr Gelder, um eine Chancengleichheit herzustellen. Ein Fünftel der Kinder in Deutschland sind von Armut betroffen. „Warum werden diese unterschiedlichen Startchancen nicht ausgeglichen?

Und gleichzeitig gibt es ein 100-Milliarden-Paket für die Bundeswehr. Das hinterlässt ein großes Fragezeichen bei mir“, sagt Caroline. Sie ist der Ansicht, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich durch eine gerechte Bildung verkleinern könnte und auch andere Probleme wie beispielsweise der Fachkräftemangel langfristig damit angegangen werden könnten.

Als Ursache für die fehlende Veränderung sieht Caroline zwei Punkte: zum einen den Bildungsföderalismus. Jedes Bundesland entscheidet selbstständig, wie das Bildungssystem gestaltet ist. Somit ist ein grundlegender Wandel quasi unmöglich. Zum anderen sind die Vierjahreszyklen in der Politik hinderlich für eine langfristige Perspektive. Ähnlich wie auch beim Klimawandel werden Probleme auf die lange Bank geschoben und somit nicht behoben.

Kompletter Neustart des Bildungssystems wäre erforderlich

Der Philosoph Richard David Precht hat sich ebenfalls mit dem Schulsystem befasst und vergleicht es mit einem maroden Gebäude, an welchem immer mal wieder ein kleiner Anbau angebracht wird. Caroline ergänzt das: „Man müsste eigentlich das gesamte System abreißen und von Grund auf neu zusammenstellen.“ Dass dies noch einige Jahre oder gar Jahrzehnte dauern könnte, liegt auf der Hand. Was aber lässt sich bis dahin tun?

Caroline kämpft für ein alternatives Schulsystem. Für alle, die sich im System befinden, hat sie aber auch jede Menge Tipps und Unterstützung: sich einbringen, Elterninitiativen gründen, laut werden, die Politik ansprechen und Social Media als Informationsquelle und Vernetzungsort nutzen. Und für den schulischen Alltag gibt Caroline noch ganz viele liebevolle Tipps mit Kreidestiften, Stoppuhren und Reiskörnern. Wer jetzt neugierig geworden ist, sollte ihr also dringend folgen.

 

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Veronika Fischer lebt in Konstanz und ist Mutter von drei Söhnen. Als freischaffende Journalistin kommt sie an außergewöhnliche Orte, trifft ganz unterschiedliche Menschen und schreibt darüber für Kulturmagazine und Zeitungen.

Foto: ©Jette Marie Schnell

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