zwei kleine Mädchen sitzen gemeinsam über einem Text und lesen

Bildung, aber gerecht!

Was die Schule (und wir) anders machen muss

„Aber damals lief es soundso“ ist ein Satz, den ich bei jedem Elternsprechtag höre. Meiner Ansicht nach liegt in ihm schon die Krux: Wir blicken immer zurück, aber nie nach vorne, wenn es um Schule geht. Das hilft aber nicht, wenn wir aktuelle Ungerechtigkeiten im System lösen wollen. Was müssen wir also ändern?

„Das war beeindruckend, was für ein tolles Erlebnis.“ So kurz und knackig fasste eine Schülerin die Erfahrungen ihrer Abschlussfahrt zusammen. Was war passiert? Wir (Ich bin Lehrer in dieser Klasse) waren auf Studienfahrt in Kopenhagen und das hinterließ bei den Schüler:innen einen bleibenden Eindruck. Für viele der jungen Menschen aus einem kleinen niedersächsischen Ort bedeutete die Reise in die dänische Hauptstadt den ersten Trip ins Ausland. Fremdes Geld, eine andere Sprache und besondere Gepflogenheiten wie eine ausgeprägte Fahrrad-Kultur: All das war Erlebnis, Ereignis und Herausforderung.

Was bleibt, sind Erfahrungen, die ohne die Studienfahrt im letzten Schuljahr vielen Kindern verwehrt geblieben wären. Und genau an diesem Punkt möchte ich ansetzen: Erfahrung. Die Didaktik-Professorin Michaela Sambanis schreibt: „In der Pubertät wartet das Gehirn, ähnlich wie in der frühen Kindheit, geradezu hungrig auf Erfahrungen.“ Die Hochschullehrerin spricht davon, dass sich das Gehirn „entrümpelt“ und neu sortiert, so dass es wenig überraschend sein sollte, wenn junge Menschen nach Erlebnissen dürsten, die ihnen Reize verschaffen, die ihre bisherigen Grenzen testen und bisweilen überschreiten.

Ziele und Bedürfnisse stehen im Konflikt

Dem stehen viele pädagogische Konzepte der schulischen Bildung entgegen, die Vorgaben wie Qualifikation (Fähigkeiten), Sozialisation (Werte) und Selektion (Auswahl) zur Priorität machen. Klar formulierte Ziele führen aktuell zu Bildungswegen, die als Geraden vor allem gekennzeichnet durch Leitplanken glänzen, weil Abweichungen als anstrengend und wenig effektiv angesehen werden. Während ich als Lehrkraft zweifellos den Wert der dargestellten Bestrebungen verstehe, so zeigt mir die Praxis, dass die Verringerung der Ankunftsmöglichkeiten die Reise deutlich unattraktiver macht und letztlich die Jugendlichen viel zu oft demotiviert.

Diese Kritik an einem starren System, welches sich auf die Masse statt auf das Individuum ausrichtet, ist in Fachkreisen nichts Neues. Bestrebungen führten so zum Beispiel dazu, dass bereits 2015 jede zweite allgemeinbildende Schule Ganztagsangebote im Programm hatte. Neben dem Format der Ganztagsschule gibt es weitere Optionen, Schule erlebender zu gestalten: Austauschprogramme, außerschulische Lernorte, Projektwochen. Diese besonderen Bildungsstrukturen sind erstrebenswert und sollten deshalb ausdifferenziert und gefördert werden.

 

 

„Während ich als Lehrkraft zweifellos den Wert der dargestellten Bestrebungen verstehe, so zeigt mir die Praxis, dass die Verringerung der Ankunftsmöglichkeiten die Reise deutlich unattraktiver macht und letztlich die Jugendlichen viel zu oft demotiviert.“

Gesellschaftliche Faktoren beeinflussen die Bildung zu stark

Bei allen Reformwünschen liegt eines der Kernprobleme aber tiefer in unserer Gesellschaft verankert: die Bildungsungerechtigkeit. Laut des Datenreports 2018 besuchten lediglich 8,7 Prozent der Kinder, deren Eltern höchstens einen Hauptschulabschluss erreichten, ein Gymnasium. Des Weiteren zeigt sich, dass diese Risse in der Gesellschaft nicht nur vom Bildungsgrad der Familie abhängen, sondern auch von der Herkunft. Während lediglich 26 Prozent der Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund haben, lag der Anteil auf den Hauptschulen bei 55 Prozent. Nach einem Hauptschulabschluss findet dann nur knapp die Hälfte direkt einen Ausbildungsplatz. Wenig überraschend, dass die Zahl der Jugendlichen mit Abitur kontinuierlich gestiegen ist, denn die Angst vor finanziellen und beruflichen Sorgen treibt viele Menschen an. Bedenkt man jetzt noch, in welchem Zustand viele Schulen in Deutschland sind, wird klar, dass der schulische Erfolg von vielem abhängt: Herkunft, Bildung der Eltern, finanzielle Ausstattung der Schule, außercurriculare Chancen der Bildungseinrichtung, aber zu selten hat das individuelle Kind damit zu tun.

Frau küsst ihren Jungen ©Marian Vejcik by Stockfotografie // Oben: Kinder by Pexels

Die Lösung?

Was muss also getan werden? Da die Herausforderungen vielschichtig sind, reicht auch die klassische Forderung „mehr Geld in Bildung investieren“ nicht aus. Sprechen wir zum Beispiel über den Faktor der Herkunft: Es ist notwendig, dass die Sprache erlernt wird, allerdings fasst das einfach zu kurz. Die Flüchtlingssituation 2015 und der Ukraine-Krieg sind nur zwei Belege dafür, dass die Menschen, die nach Deutschland kommen, sensible und pädagogische Betreuung brauchen. Schulen muss es ermöglicht werden, auf die psychologischen Bedürfnisse junger Menschen einzugehen, dieses soziale Netz muss ausgebaut werden, da es Sozialarbeiter:innen, Psycholog:innen und Mediator:innen benötigt. Seelische Bedürfnisse brauchen mehr Aufmerksamkeit. 

Zusätzlich müssen wir darüber reden, wer den Bildungsweg vorgibt. Ich halte es weder für sinnvoll, dass ausschließlich Eltern vorgeben, wohin es geht, noch empfinde ich es als überzeugend, allein die Lehrkräfte der Grundschulen zu verpflichten, diese Entscheidung zu fällen. Wir brauchen ein Konzept, bei dem eine lebensverändernde Entscheidung wie diese zu einem besseren Zeitpunkt gefällt werden kann. Das bedeutet, dass es eine Form der Orientierung und Flexibilität geben sollte, die entweder auf das Konzept der Gesamtschulen hinführt oder eine intensive Zusammenarbeit aller Primar- und Sekundarbereiche beinhaltet, in welcher die Wechselmöglichkeiten konsequent und dauerhaft ermöglicht werden. Des Weiteren gilt es hier, Schüler:innen an der Entscheidung zu beteiligen, über Tage der offenen Tür oder Internetpräsenz können sich auch junge Kinder einen Eindruck verschaffen und sollten zumindest mit bedacht werden, wenn es um ihre Zukunft geht.

Schule als Ort der Selbstverwirklichung

Meinem Verständnis nach darf Schule des Weiteren nicht allein als Weg zum Ziel zum Zertifikat verstanden werden, sondern als umfassender Lebensabschnitt, der auch einen Selbstzweck hat. Unsere Erfahrungen innerhalb der Schulzeit prägen uns so sehr, dass sie nicht als gezwungener Stopp auf der Straße zum Abschluss wahrgenommen werden sollten. Stattdessen sind sie – pathetisch gesprochen – Sehenswürdigkeiten, deren Bedeutung im pädagogischen Sinne aufgegriffen werden muss. Streit, Liebe, Selbsterfahrung und Frustration gehören zum Alltag der Jugendlichen, weshalb sie nicht als Störfaktor für das „wahre Lernen“ kategorisiert werden dürfen. Kurzum: Die soziale Seite des Menschen muss Anerkennung finden.

Platz der Kinderrechte ©Dominik Rh. by pixabay

Eine Forderung!

Abschließend möchte ich keinen Lösungsvorschlag darlegen, sondern eine konkrete Forderung formulieren: Kinderrechte gehören ins Grundgesetz. Wir brauchen dieses Symbol, um ihnen die Bedeutung zukommen zu lassen, die sie verdienen. Viel zu lange wurden Kinderrechte stiefmütterlich behandelt, so dass es an der Zeit ist, uns gesetzlich aufzuerlegen, Kinder mehr zu schützen und zu unterstützen.

Die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz ist die notwendige Legitimierung, um anschließend überzeugende Veränderungen durchzusetzen. Ich bin davon überzeugt, dass wir dann unerträgliche Ungerechtigkeiten – nicht nur in der Bildung – ausmerzen können, so dass eines Tages viel mehr Kinder viel öfter sagen können: „Was für ein tolles Erlebnis.“

Werde Demokratie-Verfechter:in
fürs DEMOS MAG

Du willst das DEMOS MAG unterstützen, weil guter, diverser Journalismus Dir am Herzen liegt und Du auch denkst, dass Demokratie keine Selbstläuferin ist? Dann spende einmalig mit einer eSpende oder werde Abonnent:in auf Steady.
Fördere mit uns den gesellschaftlichen Diskurs und gib mit Deiner Spende den im Mainstream unterrepräsentierten Stimmen mehr Gewicht.

Jetzt Abonnieren

Florian Goesche arbeitet hauptberuflich als Lehrkraft an einem niedersächsischen Gymnasium und unterrichtet dabei die Fächer Politik-Wirtschaft, Deutsch und Darstellendes Spiel. Neben dieser Tätigkeit interviewt er regelmäßig Expert:innen zu gesellschaftlichen Themen für seinen Podcast „PolitMenu“. Seine inhaltlichen Schwerpunkte liegen dabei auf Bildung, sozialer Gerechtigkeit und politischer Teilhabe.

Foto: ©Maria Reichmann

ZUM TEILEN