„Jeder Mensch ist ein Vers.“

Ein Gespräch mit José F. A. Oliver über die Demokratie des Literaturbetriebs, über Heimat und Lyrik

Steigen wir mit einer zugegebenermaßen mausgrauen Weisheit ein: Der Charakter eines Menschen zeigt sich besonders prägnant in Momenten des Erfolgs. Als José F. A. Oliver dieses Jahr mit dem gewichtigen Heinrich-Böll-Preis ausgezeichnet wurde, waren es allerdings vor allem die Reaktionen seiner Mitmenschen, die in bunten Bänden sprachen. Es war ehrliche, ungefilterte Freude, die sich da digital und generationsübergreifend abzeichnete und die vielgliedrigen Spurensysteme bezeugte, die José Oliver in den letzten Jahrzehnten in den Literaturnetzen hinterlassen hat.

Oliver, der zweifelsohne zu den entscheidenden Lyrikern des Landes zählt, wurde 1961 in Hausach in Baden-Württemberg geboren. Seine Eltern stammen aus Málaga in Spanien und waren als Gastarbeiter in den Schwarzwald gezogen. Dort wurde José zum Weltenwandler. Zwischen den Sprachen und Dialekten, zwischen den Identitäten und zwischen der vermeintlichen Provinz und der unendlichen Weite der Kunst. Möglichst weit weg und möglichst nah dran. Bis ans Ende der Welt. Nach Kairo. Nach Cambridge. Nach Istanbul. Und dann wieder nach Hausach. Immer wieder Hausach. Und hier, im Dazwischen, lässt sich auch seine Sprache verorten. So klar, so karg, so kantig, wie eine Skulptur, der man alles Überflüssige abgeschlagen hat. Und doch auch irgendwie weich. Harmonisch (mindestens von Zeit zu Zeit). Allzeit zum Abheben bereit. 1998 gründete er dann den „Hausacher LeseLenz“, jenes Festival also, das sich als zentraler und konstanter Baustein verankerte. Der „LeseLenz“ vereinigt Lesungen, Werkstätten, Aufenthalts- und Arbeitsstipendien, einen Literaturpreis, Mikro- und Makrokosmos in einer konsequenten und niemanden ausschließenden Gleichzeitigkeit. Und ebendiese gelebte Pluralität macht José F. A. Oliver zu einem idealen Gesprächspartner mit Blick auf die Demokratie. Und die Literatur. Und vor allem auf die unsichtbaren Seile, die diese beiden Diskurse unweigerlich miteinander verknüpfen.

Jeremias Heppeler: Wir fallen direkt einmal mit der Tür ins Haus: Wie wichtig ist ein vitaler Literaturbetrieb in einer Demokratie? Was sind die Aufgaben für uns als Autor:innen, innerhalb dieses Geflechts?

José F.A. Oliver: Der Literaturbetrieb muss Kompass und Korrektiv in einem sein. Die Autor:innen sollten sich zwei, ja, ich möchte sagen „Tugenden“ vor Augen führen und stets von Neuem verinnerlichen: a) absolute Wachheit und b) eine Haltung, die sich in die Würde des Menschen einschreibt und diese immer und überall als Maßstab in den Raum stellt. Demokratie ist die gefährdetste aller politischen Entwürfe des sozialen und politischen und damit auch kulturellen Zusammenlebens.

Wie demokratisch ist denn eigentlich der Literaturbetrieb? Oft finden ja Diskussionen um Gatekeeping statt. Und wie verändert sich diese Welt unter den Eindrücken des Internets? 

Der Betrieb, oder versöhnlicher gesagt, Teile des Betriebs haben leider aufgrund des ökonomischen Drucks ihre Visionen ins „Poetisch-Ethische“ verloren und werden leider (fast) ausschließlich vom buchhalterisch-rechnerischen Kalkül (des Überlebens) dominiert. Dabei bleibt die Poesie auf der Strecke. Poetische Leidenschaft und die Liebe zur Sprache dürfen dem Kommerz nicht zum Opfer fallen, sondern müssen ein wichtiger Gradmesser bleiben. 

Das Internet indes ist eine „Revolution“ der Kommunikation und deshalb eine gesellschaftliche und eine ästhetische Chance für alle. Allerdings sind wir in den Anfängen einer „E-Orientierung“ im Umgang mit ihm angesichts der sich rasant verändernden und deshalb sich auch stets erneuernden Formen der digitalen Auseinandersetzung, die dadurch natürlich auch die Inhalte unseres „Gemeinsamen“ mitprägen. 

Künstliche Intelligenz und ethische Bildung sind zwei Themen- und Wirklichkeitskomplexe, die transparent in die Breite des Sozialen übersetzt werden müssen. Vielleicht sollten wir „Akademien des E-Poetischen“ gründen und den Beruf der „Wortarbeiter:innen“ definieren – so wie es Sozialarbeiter:innen gibt. An jeder Schule eine Stelle, die von „Wortarbeiter:innen“ ausgefüllt wird. Aber nicht nur an den Schulen und anderen Bildungseinrichtungen. Wir brauchen überall „Sprachbotschafter:innen“.

Alle Fotos: ©José F.A. Oliver

Als Autor, aber eben auch als Kurator des LeseLenz machst du die Grenzen durchlässig. Auch das finde ich hochgradig demokratisch. Hast du dich bewusst dafür entschieden? 

Ich bin in einer Minderheit aufgewachsen. Zum Teil auch gesellschaftlich und politisch und kulturell ausgegrenzt oder zumindest als nicht dazugehörend verortet worden. Mir war sehr schnell klar, dass es nicht nur die zwei Seiten einer Medaille gibt, sondern vor allem auch deren Rand.

Mit dem Hausacher LeseLenz förderst du auch gezielt junge Autor:innen – warum machst du das?

Sprach- und Literaturvermittlung sind ein wesentlicher Teil meines Werks. Ich bin auch Dichter, wenn ich eine Lesung oder eine Werkstatt konzipiere und organisiere. Mit allem, was ich tue, verteidige ich die Räume der Begegnungen und des Dialogs. Ich glaube an ein „Wir“; ich glaube an die Poesie (in jedem Menschen). Die poetischen Worte möchte ich mit all meiner Kraft an die nächste Generation weitergeben. Ich empfinde das als innere Pflicht einer Verantwortung, die mir als Mensch anvertraut ist. Solidarität ist eine Frage der respektvollen Nähe. Und wir brauchen eine „Poetik der Zärtlichkeit“. Jeder Mensch ist ein Vers.

Was macht ein Festival in der vermeintlichen Provinz aus? Warum muss es genau da stattfinden? 

Für mich geht „Provinz“ – in der heutigen oft negativen Bedeutungsauslegung – durch den Kopf und das Herz. Mit jedem Gedicht, das beispielsweise in Hausach gelesen oder gehört wird, ist die Welt in ihrer Ganzheit und Unvollkommenheit da. Der Augenblick des Poetischen unterscheidet nicht zwischen Metropole und „ländlichem Raum“. Liebe und Tod sind überall eins.

Ich habe zuletzt bemerkt, dass die Lyrik auf Medien wie Instagram wieder sehr präsent ist. Viele Autor:innen teilen (teils für ein sehr großes Publikum) täglich Gedichte. Tagesaktuell. Stundenaktuell. Teilweise politisch. Wie hat sich die Lyrik gewandelt? Und wie hat sich deine Herangehensweise an das Texten im letzten Jahrzehnt verändert?

Wie gesagt: neue Medien, neue Kommunikationsmöglichkeiten! Auch die der künstlichen Intelligenz und dementsprechend zusätzliche Formen und Inhalte, die mit diesen Gestaltungsmöglichkeiten umgehen. Verändert? Natürlich! Und: Gott sei Dank! Ich schreibe mich jeden Tag weiter ins Gedicht, das ich „niemals schreiben werde“ – wie Octavio Paz einst sagte: „Vielleicht ist jedes Gedicht der Entwurf eines Gedichts, das wir niemals schreiben werden.“ Das ist doch toll! Deshalb kenne ich weder eine Schreibkrise noch eine Schreibblockade. Ich bin immer im Wort. Absolut präsent. Ich war, weil ich bin, wenn ich sein werde. In jeder Umarmung drückt sich das ganze Leben aus. Es gibt insofern auch Umarmungen in Worten: poetische Umarmungen. Das ist ein Manifest der Würde – mein Maßstab ohne Maßmarkierungen, die ausgrenzen. Oh, Gott – jetzt wird es philosophisch…“.

Andalusien. Schwarzwald. Zwei Pole. Zwei Heimaten? Irgendwie! Wie wichtig ist der Heimatbegriff für dich. Gibt es den überhaupt? 

Nicht als Begriff, vielmehr als Atem ins Freie und Geborgene zugleich – ein Habitat der Seele, des Herzens und des Geistes. Heimat ist für mich dort, wo ich mich nicht erklären muss. Eine Wahrnehmung ins Offene des Zusammenlebens, des Vertrauens und des Zutrauens. Heimat ist für mich Akzeptanz der Vielfalt im Überschaubaren.

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Jeremias Heppeler lebt und arbeitet im Donautal und versteht sich als Medienvermischer. Kunst, Film, Text, Musik - und auch Journalismus sind für ihn nur bedingt getrennte Felder.

Foto: ©Privat

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