WM-Katar Ball

Doppelmoral-Weltmeister

Kritik an der Katar-Kritik

Die Kritik an der WM in Katar war und ist laut. Viele wollten die Spiele auch schon vor dem Ausscheiden der Deutschen Mannschaft boykottieren. Aber ist diese Kritik ehrlich? Oder steckt hinter dem Interesse an Menschenrechten nicht etwas anderes? Sind wir vielleicht auch ohne Titel Doppelmoral-Weltmeister?

„Es ist die umstrittenste Weltmeisterschaft in der Geschichte und es wurde noch nicht einmal ein Ball getreten“

Es war die längste Eröffnungsfeier in der Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaft. Vom Tanz in katarischer Tradition, über Kamele, bis hin zum Hollywoodstar Morgan Freeman war in Katar alles vertreten. Während auf der ganzen Welt die Feier im TV lief, bekamen die Zuschauer des britischen Senders BBC eine Dokumentation über Katar zu sehen. Moderator Gary Lineker leitete die Berichterstattung mit dem folgenden Satz ein: „Es ist die umstrittenste Weltmeisterschaft in der Geschichte und es wurde noch nicht einmal ein Ball getreten“. Anschließend folgten Bilder über die schlechten Bedingungen für die Arbeitsmigrant:innen, über den Hass auf Homosexuelle und die Korruption in der Fifa.

Missstände in Katar

Mit seiner Aussage trifft er den Nagel auf den Kopf. Bereits Wochen vor der WM wurde von zahlreichen Fan-Organisationen, Nachrichtenplattformen und Agenturen zum Boykott der WM in Katar aufgerufen. 6500 Wanderarbeiter sollen bei dem Bau der Stadien seit der WM-Vergabe in 2010 verstorben sein. Neben der Dunkelziffer sprechen die Arbeitsbedingungen für sich: Im März 2016 hat Amnesty International einen neuen Bericht veröffentlicht, der hohe Wellen schlug. Der Herausgeber, Mustafa Qadri, konnte nachweisen, dass auf einer WM-Baustelle Arbeiter immer noch ausgebeutet wurden, unbezahlte Überstunden machten und in kleinen, dreckigen Quartieren lebten.

Auch ein Blick auf die aktuelle Situation vor Ort offenbart inakzeptable Zustände. So berichten unterschiedliche Nachrichtensender, dass israelische Journalist:innen (auch von linken Zeitungen und TV-Sendern), verfolgt und beleidigt worden seien. Zudem konfrontierte man sie mit der Verleumdung des Staates Israels, was durchaus als Beleg für die teils salonfähige antisemitische Haltung einiger Katarer:in gewertet werden kann.

Auch die Aussage des WM-Botschafters und früheren Fußball-Nationalspieler, Khalid Salman, in einem Interview mit dem ZDF, als er Homosexualität als „geistigen Schaden“ bezeichnete, kam dem Image der Emirate Katar nicht zugute. Fehlende Frauenrechte und Verbot von Homosexualität sind nur einige der Menschenrechtsverletzungen, die das Land unter massiv Kritik geraten ließ.

Menschenrechtsverstöße in Russland und China

 

„Bisher ist kein Gastgeberland
eines internationalen Sportereignisses
wegen seiner Menschenrechtslage so stark
angegriffen worden
wie Katar.“

Trotz dieser legitimen Kritik frage ich mich, warum diese kritische Haltung und der zivilgesellschaftliche Ruf nach Menschenrechten nicht bereits in der Vergangenheit so laut wurden? Die fehlende Akzeptanz von sexuellen Minderheiten und die schlechten Bedingungen der Arbeiter:innen waren doch schon bei der WM 2018 in Russland ein Thema. Auch hier waren die Fifa und russischen Organisatoren der Weltmeisterschaft darüber informiert, dass zum Beispiel am Stadionbau in Sankt Petersburg nordkoreanische Arbeiter unter Bedingungen beschäftigt waren, die von internationalen Organisationen als moderne Form der Sklaverei bezeichnet wurden. Obwohl Aktivist:innen frühzeitig auf die Missstände in dem Gastgeberlandes hingewiesen hatten, stieß das in der Mehrheitsbevölkerung in Deutschland kaum auf Interesse.

Bisher ist kein Gastgeberland eines internationalen Sportereignisses wegen seiner Menschenrechtslage so stark angegriffen worden wie Katar. Die scharfe (inter-)nationale Verurteilung der Homofeindlichkeit hat meiner Meinung nach seine Berechtigung. Das geht jedoch auch ohne eine Reproduktion von anti-muslimischem und anti-arabischem Rassismus. Viele Menschen in Deutschland haben bereits starke rassistische Vorurteile gegenüber arabischen und/oder muslimisch gelesenen Menschen. Die mediale Berichterstattung über die WM verfestigt dieses rassistische Klischee zusätzlich.

Beispielsweise werden fehlende Frauenrechte in Katar aus dem viralen Clip der ZDF-Doku mit den WM-Offiziellen in hiesigen Debatten aufgegriffen und mit dem Islam in Verbindung gebracht. Das wirft die Islam-Debatte in Deutschland erneut um Meilen zurück. Was dem Zuschauer nach dem Clip bleibt, ist der negative Beigeschmack dieser Assoziationen, die man mit einer sogenannten „arabischen Welt“ und dem Islam hat. Also die Stereotypisierung der rückständigen „orientalischen“ Gesellschaft.

Wir brauchen in Deutschland einen Perspektivenwechsel: weg von einer Betrachtung des Turniers durch die eurozentrische, orientalistische Brille. Das Einstehen für Menschenrechte weltweit ist und bleibt ein wichtiges Anliegen, dabei sollte sich jedoch nicht an unterschiedlichen Bewertungsmaßstäben bedient werden. Bei der Beurteilung der Menschenrechtssituation in Katar ist es wichtig, die Stimme zu erheben. Aber genauso sollten wir bei anderen Missständen laut werden. Nein, ich kann mich nicht für jede Krise auf der Welt gleichermaßen einsetzen, aber trotzdem können jeder Mann und jede Frau kritisch reflektieren, ob die eigene Kritik an der WM 2022 sich eventuell an plumpen rassistischen Klischees bedient. Sich also die Frage stellen, ob es einem selbst wirklich um Menschenrechte geht oder darum, ins „bashing“ gegen andere Kulturen und damit in eine banale Empörungskultur einzusteigen.

Denn eigentlich müssen wir in der Sporthistorie gar nicht weit zurückschauen, um Unrecht zu erkennen. Die Olympischen Winterspiele 2022 fanden in Peking statt. Die chinesische Regierung begeht seit Jahren einen Genozid gegen die Uyghurische Bevölkerung im Land. Die Regierung in Xinjiang hat bereits mehr als eine Million Uyghuren „umerzogen“ – durch Zwangsarbeit, Inhaftierung und Sterilisierung. Wo waren da die Schlagzeilen über einen Boykott der Winterspiele – die Unbeugsamkeit der eigenen Moral und der „westlichen“ Werte?

Antimuslimischer und Antiarabischer Rassismus

Bevor die Diskussion mit dem Vorwurf des „Whataboutism“ totgeschlagen oder die Käseglocke über solche Vergleiche gestülpt wird, sollte uns klar sein, dass die eine Wahrheit die andere nicht ausschließt. Fakt ist, dass gegen die menschenunwürdigen Bedingungen in Katar lautstark protestiert werden muss. Fakt ist aber auch, dass die Berichterstattung der Medien sich an antimuslimischen Vorurteilen auf eine selektive Weise, wie sie gegenüber anderen Ländern kaum vorhanden ist, bedient. 

Wir sehen es beispielhaft an dem Kommentar von der Sportjournalistin Inga Hoffmann, die die Eröffnungsfeier der WM 2022 als „aufgeblasen“ und „bizarr“ kommentierte und das Maskottchen der WM, ein arabisches Gewand, mit einem Leichentuch gleichsetzte. Während des Fußballspiels Deutschland gegen Spanien äußerte sich ZDF-Sportexperte Sandro Wagner in der 79. Minute wie folgt: „Vorhin habe ich gedacht, die ganze Kurve ist voller Deutschland-Fans. Dann habe ich erst gemerkt, dass sind katarische Bademäntel.“ Millionen Menschen in der arabischen Welt tragen einen sogenannten „Thawb“. Und auch wenn Wagner sich inzwischen für den Vorfall entschuldigt hat, bleibt etwas hängen.

Auf Twitter entbrannte übrigens daraufhin eine Diskussion in den Kommentarspalten: „Ach komm, jetzt sei doch nicht so“ oder „Das war doch nur ein blöder Witz“. So reagieren die meisten, wenn betroffene Menschen eine bestimmte Bemerkung als nicht passend, orientalistisch oder sogar rassistisch benennen. Ob am Arbeitsplatz, auf der Familienfeier oder in der Kneipe, vielen BiPOC’s ist eine solche Situation nicht neu. Anstatt zu akzeptieren, dass das ein unpassender Kommentar war und dass die fehlende interkulturelle Kompetenz aufgearbeitet werden muss, verharmlost man das ganze Geschehen. Nein, die Missstände in Katar rechtfertigen meiner Meinung nach keine abfälligen Kommentare gegen die Bekleidung der gesamten arabischen Welt.

Doppelmoral und Empörungskultur

Der Einsatz für die eigenen Werte erscheint plötzlich sehr unehrlich, wenn man im Gegenzug nicht bereit ist, Kultur und Werte anderer Länder zu respektieren. Das Übel fängt mit einer Sprache an, die verharmlost. Sie spiegelt unsere Einstellungen als Gesellschaft wider. Da ist es egal, welche Binde wir uns überstreifen oder wie laut wir die Worte „One-Love“ herausschreien, solange wir keine Verbündeten von den Menschen in Deutschland sein können, die tagtäglich Rassismus erleben und von solchen taktlosen Sprüchen und Witzen immer wieder überrumpelt werden. Solange wir ihren Schmerz und ihre Wut nicht nachempfinden können. Solange gibt es kein „One-Love“ für mich, egal wie groß wir uns das auf die Fahne schreiben!

Diese Überheblichkeit und moralische Empörung kritisierte auch Ex-Bundesaußenminister Sigmar Gabriel in einem Tweet und schreibt: „Ich bin mal gespannt, was wir zur Fußball WM in Mexiko sagen. In diesem Land werden pro Jahr etwa 1000 Frauen ermordet und die Dunkelziffer liegt weltweit höher. Mal sehen, ob wir mit einem christliche geprägten Land genauso hart ins Gericht gehen wie mit einem muslimischen.“

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Rameza Monir ist freie Journalistin und schreibt vor allem über Rassismus, extreme Rechte, Religion und Social Media. Sie hat Politikwissenschaften und Soziologie an der Universität Tübingen studiert. Rameza ist in der kommunalen Integrationskommission und setzt sich ehrenamtlich für den interreligiösen Dialog ein.

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Verena Siggelkow ist Wahlberlinerin und Künstlerin. Nach ihrer Ausbildung zur Illustratorin und grafischen Zeichnerin hat sie als Freiberuflerin im Bereich Stop-Motion gearbeitet und sowohl digital als auch analog eigene Illustrationen sowie Kinderbücher gestaltet. Aufgrund ihres Interesses an sozialen Themen, hat sie aufbauend das Studium der Sozialen Arbeit absolviert und setzt sich nun mit der Verbindung von Kunst, Kreativität und Selbstbestimmung auseinander.

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