Schlafplatz eines Obdachlosen an einem Geländer. Eine pinkfarbene Decke bildet ein Zelt.

„Niemand muss auf der Straße leben.“

Warum dieser Satz so empathielos wie unwahr ist

Der Winter steht vor der Tür, die kalte Jahreszeit klopft an. Lange dunkle Tage und Nächte stehen uns bevor. Zusammengerollte Menschen liegen mit notdürftiger Ausstattung in Wohnungseingängen, auf Treppen oder Bänken. Ein Appell, die Menschen auf der Straße gerade jetzt nicht zu vergessen.

Schicksale hinter Namen

Letztens im Café: Ein Obdachloser geht vorbei, fragt mich nach Geld. Ich antworte ihm, dass ich bedauerlicherweise kein Bargeld dabei habe. Daraufhin wird er wütend, schmeißt mir  Zehn-Cent-Stücke vor die Nase und grummelt irgendwas in seinen Bart. Ich habe ein bisschen Herzklopfen. Der nett aussehende Typ neben mir dreht sich zu mir um. „Schlimm, oder?“, sagt er. Und weiter:  „Es nervt. Ich verstehe sowieso nicht, warum hier überhaupt gebettelt wird. In Deutschland muss einfach niemand auf der Straße leben.“ Wie bitte?! Da ist er wieder, dieser Satz, der mir seit Jahren bitter aufstößt. Für den ich immer und immer wieder Diskussionen angefangen habe.

Der Obdachlose war Oliver (Name geändert), ich kenne ihn seit 15 Jahren, viele kennen ihn hier, kennen seine Geschichte. Sein psychischer Zustand wurde mit den Jahren immer schlimmer. Ich erinnere mich noch gut an seine Anfänge auf der Straße, ich war selbst noch ein Kind. Damals war er ein sportlicher jüngerer Mann mit gepflegtem, schulterlangen Haar, Trekking-Rucksack und Wanderschuhen. Als er meine Mutter und mich das erste Mal um Geld bat, war ich erstaunt. „Wieso bettelt dieser Mann, Mama? Er sieht doch ganz normal aus.“

Wie landet man auf der Straße?

Mittlerweile sieht Oliver nicht mehr normal aus. Sein optischer Zustand veränderte sich drastisch im Laufe der Jahre, gleiches gilt für seine Psyche. Ja, ich mache manchmal einen Bogen um Oliver, weil er mittlerweile unberechenbar ist. Ob er mich nervt, weil er um Geld fragt? Nein! Oliver hat alles verloren, seine ganze Familie, seine Frau, seine Kinder. Sie sind tödlich verunglückt.

Es ist tatsächlich wahr, in Deutschland muss (fast) niemand auf der Straße wohnen – zumindest in der Theorie. Es besteht grundsätzlich die Möglichkeit, auch als wohnungslose oder obdachlose Person bei Erwerbsfähigkeit Hartz IV und Arbeitslosengeld (ab 2023 Bürgergeld) oder bei Erwerbsunfähigkeit Sozialgeld zu beantragen, solange man sich ausweisen kann und die Möglichkeit hat, irgendwo Post zu empfangen (arbeitslosenselbsthilfe.org 2018).

Einkaufskörbe voll mit Habseligkeiten von Obdachlosen und
Habseligkeiten ©Jeannette Hagen // Oben: Obdachlos in Berlin ©Jeannette Hagen
Windlichter, Blumen, Zettel, auf dem steht: Joe, vielen Dank für Deine Musik
Abschied von Joe, der auf der Straße lebte und starb ©Jeannette Hagen

Schicksale hinter Zahlen

Dennoch waren 2020 nach Schätzungen der Wohnungslosenhilfe 256.000 Menschen wohnungslos, davon lebten circa 45.000 auf der Straße. Darunter viele junge Menschen und auch Eltern mit Kindern. Hinzukommt die Zahl wohnungsloser Geflüchteter: Rund 160.000 Menschen, die 2020 in Gemeinschafts- oder Notunterkünften untergebracht waren. Tendenz vor allem nach zwei Jahren Pandemie steigend (BAGW 20212). Wie kommt es also, dass Menschen, denen laut Gesetz Sozialhilfe zusteht, trotzdem auf der Straße landen? Die Gründe sind genauso individuell wie vielfältig und vor allem sind sie meist plausibel. Oft beginnt die Abwärtsspirale mit persönlichen Krisen und Schicksalsschlägen wie Tod im nahen sozialen Umfeld, Trennung, Verlust des Arbeitsplatzes oder der Wohnung und (psychischen) Erkrankungen. Fehlt es dann an einem stabilen sozialen Background, Freunden oder Familie, die unterstützen, wird die Situation zusätzlich erschwert. Auch Gewalt ist eine nicht zu unterschätzende Ursache, besonders betroffen sind Frauen und junge Menschen. Die Flucht aus einem gewalttätigen Elternhaus oder einer gewalttätigen Beziehung und die Verarbeitung dieser stellen nochmal ganz eigene Herausforderungen dar.

Einmal in einer Abwärtsspirale gefangen, wachsen das Hilfeholen als solches und die Bürokratie zu einem großes Problem an. Wir alle kennen die Schwierigkeiten, die oft genug mit dem korrekten Ausfüllen von Amtsunterlagen verbunden sind, kennen die wilden Wirrungen und Formulierungen der Amts- und Behördensprache. Nach jeder abgegebenen Steuererklärung wird ein Stoßgebet, verbunden mit der Hoffnung, man möge wegen falsch gesetzter Kreuze nicht verhaftet werden, in den Himmel geschickt,. Wie muss das für Menschen sein, denen es mental und psychisch ohnehin nicht gut geht, die niedrige Bildungsabschlüsse, eine Suchterkrankung haben oder womöglich der deutschen Sprache nicht mächtig sind?

Schlafplatz vor einer Kirche, Matte, Decke
Obdachlos in Berlin ©Jeannette Hagen

Hinzukommt, dass es kaum noch bezahlbaren Wohnraum gibt. Auch Jobcenter übernehmen die Mieten nur bis zu einem gewissen Betrag. Teilweise führen Kleckerbeträge um die zehn Euro zu einer Ablehnung der Wohnung seitens des Jobcenters und in der Folge zur Wohnungslosigkeit. Das Leben auf der Straße verstärkt die vorherigen Probleme und bringt weitere mit sich. Dokumente können nicht gut gesichert werden. Die Scham, Hilfe anzunehmen, steigt, nicht zuletzt aufgrund mangelnder Hygiene und sozialer Isolation. Die Anfälligkeit für Süchte erhöht sich.

Ein menschenwürdiger Umgang

Es ist klar, dass man nicht jedem Menschen Geld geben kann und möchte, und es gibt sicherlich Situationen, in denen es stört, unterbrochen oder angequatscht zu werden. Ich erlebe aber immer wieder, dass Menschen nicht einmal ihren Kopf heben, keine freundliche Geste, kein Kopfnicken haben, sondern die Person konsequent ignorieren, die sie anspricht. Starr geradeaus zu blicken, ist ein Sinnbild für: „Ich sehe dich nicht. Wenn ich nicht hinschaue, bist du vielleicht gar nicht wirklich da.“ Genau dieses Verhalten verstärkt doch das Gefühl, zur gesellschaftlichen Randgruppe zu gehören. Die ohnehin schon vorherrschende Angst vor sozialer Ausgrenzung wird hier bestätigt. „Störe mich nicht, während ich mich unterhalte, nicht beim Essen, wie unverschämt!“ Aber wann denn dann? In diesen geselligen, räumlich begrenzten Situationen bestünde wenigstens die Möglichkeit einer Interaktion, da kann man immerhin nicht ignorant vorbeirennen.

Ich kenne die persönlichen Geschichten nicht und ich erlaube mir kein Urteil. Wäre mein Leben an irgendeiner Stelle nur ein bisschen anders verlaufen, weiß ich nicht, ob ich hier sitzen würde, in meinem warmen Zimmer. Und letztlich sind die Gründe auch egal, denn jede Person, die schon mal in eine Notsituation geraten ist, weiß doch, wie unangenehm es ist, um Hilfe zu bitten, und dass es vermutlich die meisten Menschen, große Überwindung kostet.

Hinschauen, nicht wegsehen. Was können wir tun?

Genau deshalb wäre es toll, menschlich und wünschenswert, wenn wir frühzeitig aufeinander achten würden. Menschen, die in berufliche, finanzielle oder persönliche Schieflage geraten sind, vorsichtig zu fragen, ob sie sich Hilfe wünschen. Mit der Anzahl der Probleme, dem stetigen Verstecken dieser und dem daraus resultierenden Alleinsein wächst auch die Scham und Hilflosigkeit. Menschen, die schon auf der Straße leben, können wir helfen, indem wir aufmerksam sind. Ist die Person sichtlich dünn gekleidet oder friert stark? In vielen Städten gibt es Wärme- oder Kältebusse. Wenn die betroffene Person Hilfe annehmen möchte, können wir einen entsprechenden Wärme- oder Kältebus anrufen oder für die Person nachsehen, wo sich die nächste Schlafstelle befindet. Ist die Person nicht ansprechbar, wirkt verletzt oder hilflos, sollten wir die Feuerwehr, Polizei oder den Rettungsdienst informieren.

Viele Obdachlosenhilfen, auch die Wärme- und Kältebusse, sind auf Sachspenden angewiesen. Gerade Schlafsäcke sind rar und können überlebenswichtig sein. Am besten ist es, sich vorher nach dem akuten Bedarf zu erkundigen. Und ganz wichtig: Wir sollten keine Erwartungen an die Person stellen, der wir Geld geben. Was sie davon kauft, ist ihr überlassen. Sie weiß schließlich am besten, was ihr gerade guttun würde.

Und im Übrigen:
Helfen steckt an und ermutigt andere,
es auch zu tun!

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Carlotta Drees studierte Sozialwissenschaften mit den Schwerpunkten Gesellschaft, Politik und Medien in Düsseldorf. Auch neben ihrem Studium ist sie begeisterte Beobachterin von Gesellschaft, Menschen und menschlichem Verhalten. Als Natur- und Tierliebhaberin hat sie den utopischen Wunsch, dass die ganze Welt ein Naturschutzgebiet ist. Ihr besonderes Augenmerk gehört denjenigen, die in unserer Gesellschaft keine Lobby haben und es schwerer haben, sich Gehör zu verschaffen.

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