Pinguine Fiktional

Dokufiktion als Augenöffner?

Marten Persiel setzt auf Artenvielfalt im Kino

Verfolgen wir die Hiobsbotschaften über die Klimaerwärmung noch oder sind wir auf diesem Ohr schon taub? Regisseur Marten Persiel nahm das fortschreitende Artensterbens zum Anlass, den Doku-Science-Fiction-Film „Everything will change“ zu realisieren. Doch wie gut funktioniert dokufiktionales Kino? Was können wir uns darunter vorstellen und wie grenzt man Dokumentarfilm und Fiktion klar voneinander ab?

Bevor Chancen und Risiken von hybriden, dokufiktionalen Projekten diskutiert werden, gilt es, Dokumentarfilm und Fiktion klar voneinander abzugrenzen. „Ein Dokumentarfilm unterscheidet sich vom Spielfilm darin, ob das Abzufilmende bereits gegeben ist (wie die Orte eines Weltgeschehens; Personen, die als Zeitzeugen erzählen; Fotografien von früher, die das Gesagte untermalen, usw.) oder ob die abzufilmende Welt eigens für die Dreharbeiten gebaut, eingerichtet und aufbereitet wurde“, stellt die Kommunikationstheoretikerin Dr. phil. Ursula Ganz-Blättler in einem „Versuch einer Neubestimmung“ der „Genres zwischen Fiktion und Dokumentation“ fest. Weiter führt sie aus, dass die Handlung „gescripted“ ist, die Örtlichkeiten „gestaged“ und die Personen „gecasted“ sind.

Wie Dokus sich fiktionaler Mittel bedienen

Ein:e Regisseur:in kann durch Fiktion hingegen die Realität neu erschaffen. Und darin besteht auch ein wesentlicher Unterschied zur Arbeit eines Dokumentarfilmers, einer Dokumentarfilmerin. Während sich ein:e Dokumentarfilmer:in zurücknimmt und beobachtet, greift ein:e Spielfilmregisseur:in in die Handlung ein. In einem Gespräch mit dem Journalisten Ralf Krämer merkte die französische Filmemacherin Agnès Varda an: „Kino ist niemals Wahrheit. Es versucht nur, sich der Wahrheit anzunähern.“

Die Gründe, warum sich Doku und Fiktion gerne einander ergänzen, sind unterschiedlich. Jeff Orlowski geht beispielsweise in „Das Dilemma der sozialen Medien“ von dokumentarischem Material aus, spitzt die Aussagen aber durch einen rein fiktionalen Zweig zu und erschafft somit eine neue Realität. Während reale Aussagen über die Schattenseiten der sozialen Medien als Manipulationsmaschine berichten, wird dramatische Musik abgespielt und Szenen mit Schauspielern werden eingeblendet, um den Aussagen einen dystopischen Ausdruck zu verleihen.

Wie dokumentarische Inhalte in einen Spielfilm einfließen

Ausgehend von der Wirklichkeit ist dokufiktionales Kino in Form eines Spielfilmes eine große Herausforderung. Denn im Zeitalter von Fake News, Framing und dem Vorrang von ökonomischen Interessen gegenüber ökologischen Denkweisen ist es schwer, einen Spielfilm zu produzieren, der sich wahr anfühlt. Und so wählt Marten Persiel für „Everything will change“ die Märchenform. Er lässt eine alte Dame (Jacqueline Chan) die Geschichte dreier Held:innen aus dem Jahr 2054 erzählen. Blumenwiesen sind längst Betonwüsten gewichen und fast alle Tiere sind ausgestorben. Das Wissen über die Schönheit der Natur ist in einer geheimen Arche gespeichert.

Als Ben (Noah Saavedra) durch Zufall das Foto einer Giraffe findet, begibt er sich mit Fini (Paul G. Raymond) auf einen Roadtrip, der sie zu jener Arche führt. Gemeinsam mit ihrer Freundin Cherry (Jessamine-BlissB ell) hecken sie einen Plan aus. Sie wollen all die ihnen gezeigten Videos und ihr neues Wissen über die Artenvielfalt und Schönheit der Natur in großem Stil veröffentlichen.

Persiel wählt dafür dokumentarisches Material aus echten Tierdokus, er lässt gerne die Tiere direkt in die Kamera blicken. Die Videos verknüpft er mit Wissen über Artensterben und Klimaforschung. Die Aktivist:innen und Forscher:innen, welche zu Wort kommen, sind im realen Leben Koryphäen in ihrem Fachgebiet. Der Ökologe Prof. Thomas E. Lovejoy zum Beispiel prägte den Begriff der Biodiversität. Er verglich die aktuelle vom Menschen verursachte Lage mit dem Aussterben von Dinosauriern vor 65 Millionen Jahren als Vorbote des sechsten Massenaussterbens in der Geschichte der Menschheit.

DasMärchen vom vergessenen Königreich
Das Märchen vom vergessenen Königreich ©Flare Film 2021 / Oben: Pinguine sind im Film längst ausgestorben ©FlareFilm 2021
Giraffe
Die Giraffe ist im Film längst ausgestorben © Flare Film 2021
Martin Persiel
Regisseur Marten Persiel © Christopher Häring (Dezember 2020)
Szene
Cherry, Ben und Fini (Jessamine-Bliss Bell, Noah Saavedra, Paul G. Raymond) erleben in "Everything will change" ein Abenteuer © Flare Film 2021

Wenn die Fiktion die Realität in Frage stellt

Doch wenn Fiktion und reale Interviews aufeinandertreffen, werden die realen Interviews auch noch als solche wahrgenommen? In der Doku „Das Dilemma der sozialen Medien“ werden die Interviews klar als dokumentarische Interviews abgegrenzt. Zudem entsprechen die Aussagen der Interviewten unserer Lebensrealität und eigenen Erlebnissen mit Social Media. Denn wer hat nicht schon mal über den übermäßigen Konsum der sozialen Medien gedacht? In Bezug auf die Klimakrise ist die Sache etwas komplizierter. Verschiedene psychologische Mechanismen wie die Optimismusverzerrung („optimism bias“) halten uns davon ab, uns betroffen zu fühlen, weil wir nicht glauben wollen, davon betroffen zu sein. Wir schieben die Verantwortung von uns (Verantwortungsdiffusion) und verdrängen den Gedanken an das Negative.

Des Weiteren, so erklärt es auch Marinebiologe Prof. Daniel Pauly in Persiels Abenteuerfilm, verändert sich von Generation zu Generation die Wahrnehmung von Wirklichkeit. Er spricht über das „shifting baseline syndrome“, die Psychologie der verschobenen Vergleichsmaßstäbe, die darauf beruht, dass jede Generation sich an die Umstände gewöhnt, in die sie reingeboren wird. „Niemand wird darum kämpfen, das zu erhalten, was er nicht kennt.“ Die Grundlinie des Wissens verschiebt sich von Generation zu Generation. „Im Grunde ist das Verlorengegangene immer relativ zu dem, was wir nicht kennen, und was wir nicht kennen, vermissen wir nicht.“

Die drei Held:innen, die schließlich einen Roadtrip in die 2020er unternehmen, werden mit den Fakten unserer Realität konfrontiert. Doch werden die Fakten in „Everything will change“ als real angenommen oder der Fiktion untergeordnet? Die Menge der Informationen, die Marten Persiel auf die Zuschauer:innen ausgießt, ist enorm. In 90 Minuten lässt er zwölf Expert:innen in eigens gedrehten Interviews zu Wort kommen, er kombiniert sie mit 40 Minuten Material aus Tierdokus und der Handlung seiner Held:innen. Will also Persiel zu viel?

Dokufiktionale Parabel auf die Wirklichkeit

Die Botschaft, dass man für eine grüne, bessere Welt kämpfen sollte, kommt an. Doch die Interviews gehen zwischen den Naturdokus unter. Theoretisch besteht auch das Risiko, dass die Realinterviews nicht als real verstanden werden. Andererseits kann man den Film als Parabel auf die Wirklichkeit verstehen. Dann stellt sich nicht mehr die Frage, was real ist und was Fiktion, stattdessen regt er dazu an, darüber nachzudenken, wie man selbst einen Wandel bewirken kann, um die Schönheit dieser Welt zu bewahren.

Persiel lässt auch Umweltprediger:innen zu Wort kommen. Markus Imhoof, der mit „More than Honey” (2012) einen dokumentarischen Meilenstein erschuf, warnt unmissverständlich: „Nur der dümmste Parasit würde seinen Wirt töten, weil er diesen zum Überleben braucht.“ Weiter führt er aus: „Und wir sind die Parasiten der Natur, aber uns ist es egal, ob unser Wirt am Ende stirbt oder nicht.“ Imhoof ist Hobbyimker und Regisseur. In „More than Honey“ (2012) geht er der Frage nach, was passieren würde, wenn die Bienen aussterben. „Ein Drittel von all dem, was wir essen, gäbe es nicht ohne Bienen“. Er zeichnet in seinem Film den Weg der Bienen nach und forscht weltweit nach Lösungen gegen das Bienensterben. Imhoof stellt folgende These auf: „Wenn die Bienen sterben, dann sterben vier Jahre später auch die Menschen aus“ und nennt Einstein als Quelle. Ob Einstein das jemals so gesagt hat, ist umstritten, das Zitat regt aber zum Nachdenken an. Was würde passieren, wenn der Mensch nicht mehr wäre?

Szene aus
Ben (Noah Saavedra) und Fini (Paul G. Raymon) treffen Cherry (Jessamine-Bliss Bell) wieder © Flare Film 2021

Eine Was-Wäre-Wenn-Doku spitzt unsere Lage zu

Alan Weismans Gedankenexperiment „Population Zero – Die Welt ohne uns, eine Reise über eine unbevölkerte Erde“ ging 2007 diesen Schritt. Weisman fragte, was passieren würde, wenn die Weltbevölkerung plötzlich ausgelöscht wäre. Regisseur Christopher Rowley nimmt Weismans Gedanken im gleichnamigen Dokumentarfilm auf. Ausgehend von wissenschaftlichen Erkenntnissen berechnet er, wie lange es dauern würde, bis die Natur sich ihren Lebensraum zurückholen würde.

Innerhalb von ein paar Stunden würden alle künstlichen Lichter ausgehen, nur noch Sonne, Mond und Sterne würden leuchten. Bereits fünf Jahre nach dem Tod der Menschheit wären Straßen, Gebäude und Denkmäler stark bewachsen. Innerhalb von 500 Jahren würden abgeholzte Wälder wieder nachwachsen. Seine Doku zeigt, dass die Natur wunderbar ohne den Menschen auskommen würde. Persiel hingegen zeichnet ein positives Bild und träumt von einer harmonischen Koexistenz von Mensch und Tier.

Ist dokufiktionales Kino also die Antwort, um Menschen zu nachhaltigem Handeln zu bewegen? Ich möchte die Frage anders stellen: Wie erschafft man spannendes Kino unabhängig davon, ob es sich um Dokumentation, reine Fiktion oder eine hybride Form handelt? Denn nur dann kann es bewegen und zum Nachdenken anregen.

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Susanne Gietl wollte als Kind Meeresbiologin werden. Dann entdeckte sie, dass sie auch als Journalistin in andere Welten und Wissenschaftsgebiete abtauchen kann und wandte sich der schreibenden und sprechenden Zu(ku)nft zu. Gerne entwickelt sie Audioformate und Medienkonzepte. Berlin inspiriert sie, besonders immersive Performances und Interdisziplinarität in Tanz und Theater. Über ihre Erfahrungen berichtet sie u.a. auf ihrem Blog kulturschoxx.de

Foto: © Imada Spiewok

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