Der Maßstab des Literaturkanons

Literatur neu geformt

Seit Jahren wuchert in der Literaturszene eine Gegenbewegung zum allgemeinen Bücherkanon. Dass sich die Literatur neu formt, hat nicht nur historische Gründe.

Soll eine Frau nur gefördert werden, weil sie eine Frau ist?
Diese Frage ist in jeder Branche berechtigt und es gilt, ihr nachzugehen. Ein Fachgebiet, das dabei nicht vergessen werden darf, ist das der Literatur. Man könnte meinen, dass Geschlechter in der Literatur keine Rolle spielen. Diesen Irrtum müssen wir schleunigst aufklären, denn allein historisch gesehen, gibt es zu viele Gegenbeispiele. 

Nome de Plume oder die Anonymisierung schreibender Frauen

Bis ins 20. Jahrhundert war es Frauen ohne die Erlaubnis ihrer Ehepartner untersagt, wirtschaftliche Tätigkeiten aufzunehmen, geschweige denn ein Buch zu veröffentlichen. Dass sich zu jener Zeit weibliche Autorinnen durch männliche Pseudonymen Gehör verschafften, ist heute bekannt. Der Women’s Prize for Fiction lancierte zum 25. Jubiläum ihres Bestehens die Kampagne: #ReclaimHerName. Mit dieser Aktion wurden Bücher von Autorinnen wiederveröffentlicht, die ursprünglich unter männlichen oder geschlechtsneutralen Pseudonymen publizierten. Zum ersten Mal wurden in diesem Rahmen ihre weiblichen Namen auf ihr Werk gesetzt. 

Dass solch eine Kampagne bei den Leser:innen Anklang findet, ist keineswegs Zufall. Die MeToo-Bewegung wirbelt seit 2017 die westlichen Werte zunehmend auf. Vor allem in der Medien-, Kunst und Kulturwelt. Unter anderem wuchs auch dadurch die Sensibilität für Inklusion und die Reflexion eigener Verhaltensstrukturen.  Inzwischen liegen Statistiken vor, die den Stand schreibender Frauen in der Buchbranche klar darlegen: Unterrepräsentation ist eine Tatsache.

#FRAUENZÄHLEN

„Sind Frauen im Literaturbetrieb benachteiligt? Oder schreiben wir vielleicht einfach schlechter als Männer und sind daher im Literaturkanon zurecht unterrepräsentiert?“, fragt die Universität Rostock in Zusammenarbeit mit Verbänden wie Bücherfrauen e.V. – Women in Publishing, dem PEN-Zentrum Deutschland sowie dem Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS) im Jahre 2018 und liefert Zahlen.
Zahlen, die klar aufweisen, dass weniger Frauen publiziert werden, mehr Männern Literaturpreise o. ä. verliehen werden und männliche Feuilletonisten überwiegend Männer rezensieren.

Wie geht das literaturinteressierte Volk damit um? Als Verlegerin kann ich mich klar positionieren und einen Beitrag leisten, den Fokus auf Frauen zu richten. Doch einen Beitrag im Einzelnen zu leisten, genügt nicht. Wir brauchen mehr Menschen, die ihren Blick auf die Medien- und Literaturwelt verschärfen. Dafür benötigen wir ein allgemeines Verständnis dafür, dass eine Ungleichheit existiert. Die einzelnen Leser:innen sind gefragt. Denn nur sie selbst können sich mit ihrem Leseverhalten auseinandersetzen und sich der weiblichen Perspektive annehmen.

Keineswegs ist dieses Ungleichgewicht den einzelnen Leser:innen zu verschulden. Patriarchale Strukturen spielen bereits in der Schulzeit eine Rolle. Schon früh befassen wir uns in der Schule zwangsläufig mit Werken mehrheitlich weißer, männlicher Autoren. Goethe, Schiller, Storm. Annette von Droste-Hülshoff hält tapfer die weibliche Stellung.

Die Durchschnittsleser:in achtet beim Kauf eines Buches selten auf das Geschlecht der Autor:in. Der Weg des Manuskripts zum Buch bis in die Buchhandlung ist weit. Filtert der Verlag Autorinnen aus dem Programm, werden weniger Frauen publiziert, woraufhin weniger Autorinnen in den lokalen Buchhandlungen aufliegen. Dass dann ein etwaiges Verhältnis von 3:10 entsteht, lässt die Chance verringern, dass nach einer weiblichen Autorin gegriffen wird.

Reformation des Literaturkanons

Im Jahre 2019 wird das Schweizer Autorinnen-Kollektiv RAUF gegründet (bestehend aus Anaïs Meier, Gianna Molinari, Katja Brunner, Michelle Steinbeck, Sarah Elena Müller, Tabea Steiner und Julia Weber), welches sich für mehr Sichtbarkeit von Frauen sowie gegen Sexismus und strukturelle Diskriminierung in der Literaturszene einsetzt. Das Kollektiv macht in der „Fabrikzeitung“ auf alte Meisterinnen aufmerksam und plädiert für eine Reformation des Literaturkanons. „Wir haben die alte Leier satt: Goethe spielt Flöte auf Schiller seinem Piller“, schreibt Michelle Steinbeck in der Einleitung der Fabrikzeitung (Juni 2019) und berichtet davon, dass sie gezielt nur noch Frauen lese.

Eine Quote im Literaturbetrieb wäre ein angemessener Lösungsansatz. Der gesellschaftliche Wandel lässt diesen Diskurs zu. Doch in Sachen Chancengleichheit und Diversität ist in der Verlagswelt noch Luft nach oben. Mittlerweile investieren viele Branchen in „Diversity-Stabsstellen“, die Firmen beratend zur Seite stehen. Mag das die Lösung für die ewige „alte Leier“ sein, welche wir so satthaben? Ansatzweise ja. Denn die Verlagswelt ist nicht nur überwiegend männlich, sondern auch weiß. Die Literaturwelt, die davon lebt, sich in andere hineinzuversetzen, sollte diese Sensibilität bereits in sich tragen. Ich vertraue darauf, dass die Buchbranche alte Traditionen zu brechen vermag und die jüngere Generation fordert. Und zwar jetzt.

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Nach diversen Stationen in der Buch- und Verlagsbranche, hat Jil Erdmann im Oktober 2020 den queerfeministischen Verlag "sechsundzwanzig" ins Leben gerufen.

 

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