Carola Rackete

Superstars der Postmoderne

Deutschlands bekannteste Aktivist:innen

Mit Raul Krauthausen im Gespräch. Foto: ©Carolin Weinkopf

„Wir sind an einem Punkt, wo wir gar keine Wahl haben, ob wir uns engagieren wollen oder nicht“, sagt Carola Rackete. Es ist ein warmer Spätsommertag in Berlin. Wir sitzen am Paul-Linke-Ufer in Kreuzberg. 

Gemeinsam mit Raul Krauthausen spreche ich mit den bekanntesten Aktivist:innen Deutschlands. Wir wollen wissen, wie sie was bewegen. Wir haben uns gefragt, ob es einen neuen, einen konstruktiven Aktivismus gibt, fernab aller Klischees von krawalligen Protesten. Ihre Arbeit ist unheimlich wichtig für das Bewusstsein unserer Demokratie, denn es gibt viel zu tun, viel zu bewegen. Wir haben für euch fünf Aktivist:innen befragt und stellen sie euch vor.

Luisa Neubauer spricht von den „Superstars der Postmoderne“ und meint damit „die großen gesellschaftlichen, progressiven Bewegungen“. Hier sind fünf der Interpret:innen: 

Carola Rackete

2019 rettet Carola Rackete als Kapitänin der Sea-Watch 3 im Mittelmeer 53 aus Libyen flüchtende Menschen vor dem Ertrinken. Nach wochenlangem Warten läuft das Schiff schließlich trotz eines Verbots durch italienische Behörden den Hafen der Insel Lampedusa an.  Carola Rackete wird festgenommen. Mittlerweile ist sie von allen Vorwürfen freigesprochen. Carola ist nicht hauptberuflich Kapitänin. Oder Seenot-Retterin. Sie ist studierte Ökologin und Aktivistin für Naturschutz und Klima. Im Hambacher Wald, im Dannenröder Forst oder auf Demos in Berlin.  Ihr politischer Aktivismus ist nicht auf ein Thema festgelegt. Sie stellt soziale Fragen, sie stellt systemische Fragen. Und ist dabei ständig unterwegs: auf Polarforschungsschiffen oder im Zug nach China. Was für sie Themen miteinander verbindet, sind Fragen der Gerechtigkeit. Bester Beleg dafür ist ihr ununterbrochener, selbstloser Einsatz für andere Menschen weltweit.

Luisa Neubauer, Aktivistin, Fridays for Future, Klimawandel
Foto: ©Oguz Yilmaz

Luisa Neubauer

Gemeinsam mit Greta Thunberg bringt Luisa Neubauer Fridays for Future nach Deutschland. Sie trägt wesentlich dazu bei, dass die Klima-Katastrophe weltweit zum bestimmenden politischen Thema wird. Luisa ist seit den ersten Tagen von Fridays for Future in Deutschland im Einsatz. Auf der Straße, in den Medien oder im Kanzleramt. Die 25-jährige ist eine begabte Rednerin und steckt rhetorisch „alte weiße Männer“ wie das mandatslose CDU-Mitglied Friedrich Merz in die Talkshow-Tasche. Luisa weiß aber nicht nur wie, sondern vor allem wovon sie spricht. Die studierte Geographin argumentiert mit wissenschaftlichen Fakten statt mit Emotionen – nicht zuletzt in ihrem Buch „Vom Ende der Klimakrise: Eine Geschichte unserer Zukunft” oder in ihrem Spotify-Podcast „1,5 Grad“.

Doch Luisa erlebt auch die Schattenseiten dieser Popularität. Klimaschutz, Frau, Aktivismus und mediale Präsenz provozieren vor allem Männer, deren Horizont nicht über den nächsten Kasten Bier hinausreicht. Hass-Kommentare sind das eine, Luisa lebt aber auch seit Jahren mit Morddrohungen. Gute Nachrichten gibt es im April 2021: Luisa gehört zu den erfolgreichen Kläger:innen vor dem Bundesverfassungsgericht. Das Bundesverfassungsgericht hatte nach Verfassungsbeschwerden von vorwiegend jungen Klimaschützer:innen entschieden, dass die Bundesregierung das Klimaschutzgesetz nachbessern muss, um die Freiheitsrechte jüngerer Generationen zu schützen. Das Gericht stellt fest, dass das bisherige Klimaschutz-Gesetz der Bundesregierung ungenügend ist und das freiheitliche Leben künftiger Generationen geschützt werden muss. Ein Meilenstein. Nicht nur für die Klimabewegung.

Orry Mittenmayer

Orry Mittenmayer ist „ene Kölsche Jung“. Er ist gelernter Buchhändler und Gewerkschaftler und war der erste Betriebsrat seiner Branche. Doch Orry ist nicht etwa 64 Jahre alt, sondern erst 28. Vor drei Jahren erregt er Aufmerksamkeit, als er sich wie David gegen Goliath der Plattform-Ökonomie entgegenstellt. Er arbeitet seinerzeit als Rider beim Lieferdienst Deliveroo unter miesen Arbeitsbedingungen. Es fehlt an jeglicher Arbeitnehmer:innen-Vertretung. Orry will das nicht weiter hinnehmen. Er organisiert den Aufstand der Rider und wird erster Betriebsratsvorsitzender bei Deliveroo. Außerdem gründet er „Liefern am Limit“. Das klingt wie eine RTL2-Reportage, ist aber der Name der Initiative, die für bessere Arbeitsbedingungen bei Essens-Lieferdiensten kämpft. Die Expertise von „Liefern am Limit“ ist heute bundesweit gefragt. Lange Zeit vorher glaubt Orry nicht daran, überhaupt eine politische Stimme zu haben. Er denkt, als Mensch mit Schwerbehinderung und als PoC habe er keine Chance. Politik ist für ihn etwas, das vornehmlich in Hinterzimmern und auch hier: von alten weißen Männern geführt wird. Doch Orry geht es an, er wird aktiv. Genau das rät er heute auch jüngeren Menschen: einfach machen. Denn das ist Orry Mittenmayers Credo: Empowern! Empowern! Empowern!

Orry Mittenmayer, Aktivist, Genossenschaft, Lieferdienste
Foto: ©privat
Margarete Stokowski, Aktivistin, Feminismus, Spiegel Online
Foto: ©Annette Etges

Margarete Stokowski

„Oben und unten“ und das Buch „Untenrum frei“ verbinden wir mit Margarete Stokowski. Ebenso wie das Buch „Die letzten Tage des Patriarchats“. Ersteres ist der Titel ihrer Kolumne bei SPIEGEL Online, das andere sind die Titel ihrer nicht minder erfolgreichen Bücher. Schon bevor Alice Schwarzer ihrem eigenen Populismus zum Opfer fiel, wurde Margarete Stokowski zu Deutschlands wichtigster Feministin und ist vermutlich eine der schlausten Autorinnen. Ihre Texte über Macht, Sex, Körper, Rechtspopulismus oder Pornos machen sie zur Vordenkerin im Kampf gegen das Patriarchat.

Im Jahr 2019 erhielt Margarete Stokowski den Kurt-Tucholsky-Preis, benannt nach einem der wichtigsten politischen Autoren der deutschen Geschichte. Warum Margarete Stokowski in seiner Tradition zu sehen ist, erklärte die Preis-Jury so:

„Margarete Stokowski bringt in ihren gesammelten Kolumnen in ‚Die letzten Tage des Patriarchats‘ vor allem eins auf den Punkt: dass wir alle weit davon entfernt sind, in einer gerechten Gesellschaft zu leben. Damit ist häufig, aber längst nicht nur, die Geschlechtergerechtigkeit gemeint. Stokowski rückt Schieflagen in noch krassere Perspektiven und schreibt dabei so einzigartig, lustig, unverfroren und intelligent, dass es unmöglich ist, diese Stimme zu überhören.“

Sie selbst nennt sich nicht Aktivistin. Auch deshalb nicht, weil sie weiß, dass viele ihrer Gegner*innen diesen Begriff despektierlich meinen. Muss sie auch nicht. Sie ist froh, dass sie nicht Politikerin werden muss, um mit ihren Themen gehört zu werden, und freut sich besonders,  wenn sie von Politiker:innen zitiert wird.

Ali Can

Ali Can ist Autor und Leiter des „VielRespektZentrums“ in Essen. Er nennt sich Sozialaktivist.  Er initiierte die „Hotline für besorgte Bürger“ sowie den Hashtag #MeTwo.  Für sein Engagement wurde er schon oft ausgezeichnet. Er ist Autor des Buchs „Mehr als eine Heimat. Wie ich Deutschsein neu definiere“. 

2015 und 2016 heizen deutsche Medien mit Begriffen wie „Flüchtlingskrise“ oder „Flüchtlingsstrom“ den Rechtsradikalismus an. In Dresden gründet sich die rechte Bewegung Pegida, die jeden Montag beflaggt mit Deutschland- und Reichskriegsfahnen durch die Straßen marschieren und „Abschieben! Abschieben“ grölen. Mittendrin: Ali Can. Allein, ungeschützt, aber vor allem: gesprächsbereit. Denn deshalb ist er nach Dresden gereist, um mit denen ins Gespräch zu kommen, die voller Hass und Wut ihr Kreuz bei der AfD setzen und das Leben für viele Menschen zur Hölle machen. Und Ali Can schafft es. Er nennt sich „Asylbewerber Ihres Vertrauens“ und verteilt Schokolade als Gesprächseröffnung.

Foto: ©Ali Can

Ali Can etabliert gemeinsam mit dem Online-Magazin Perspective Daily den Hashtag #MeTwo. Vorbild der Aktion ist #MeToo. Ein Hashtag, unter dem Frauen persönliche Erfahrungen sexueller Belästigungen und Übergriffe schildern. Unter Ali Cans #MeTwo erzählen Menschen mit Migrationshintergrund von Diskriminierungen im Alltag. Innerhalb weniger Tage teilen zehntausende User:innen den #MeTwo-Hashtag und Medien greifen das Thema international auf.

Foto: ©Ali Can

Mehr über die Aktivist:innen und ihre Arbeit gibt es ab 11. Oktober 2021 im Buchhandel

Raul Krauthausen, Benjamin Schwarz, Wie kann ich was bewegen, Aktivismus, Inklusion

Wie kann ich was bewegen? Die Kraft des konstruktiven Aktivismus. 

Immer mehr junge Menschen wollen sich für politische, soziale und ökologische Ziele einsetzen. Raul Krauthausen und Benjamin Schwarz ermutigen durch Gespräche mit erfolgreichen Aktivist:innen und inspirieren zu eigenem Engagement. Lange galt Aktivismus eher als Synonym für krawalligen Protest denn als ernsthafte politische Arbeit. Indem Krauthausen und Schwarz den Begriff des konstruktiven Aktivismus in die Debatte einführen, schaffen sie ein neues Verständnis: Konstruktiver Aktivismus ist ein leidenschaftliches politisches Instrument, das nichts mit schwarzen Blöcken aller Art zu tun hat, sondern radikal und konsequent für die konkrete Veränderung aktueller Umstände kämpft. 

Dafür gibt es viele gute Beispiele, und darum bilden die Gespräche mit Aktivist:innen die Basis des Buches: Luisa Neubauer, Carola Rackete, Gerhard Schick, Philipp Ruch u. v. a. berichten von ihrer Arbeit, ihren Erfahrungen, auch von ihren Ängsten und Niederlagen, vor allem aber darüber, warum Aktivismus eine Bereicherung ist – für die Gesellschaft und für das eigene Leben.

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Benjamin Schwarz ist Autor, Journalist und Politikwissenschaftler. Er arbeitet als Geschäftsführer der part GmbH für digitales Handeln.

Foto: ©Privat

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