Erwachsene Hand hält Kinderhand von hinten fotografiert

Wann ist es bei dir soweit?

Wie uns Kultur, Gesellschaft und Religion zur Mutterschaft drängen

Die selbstständige Filmemacherin Ayla Yildiz hat den Kino-Dokumentarfilm “me time” produziert, um den Druck des Kinderkriegens, dem Frauen oft ausgesetzt sind, zu kritisieren und damit Zuschauer:innen zu entlasten. Jeannette Hagen hat sie für das DEMOS MAG interviewt.

Ayla, Du sagst, dass nie so offen über Sex gesprochen wird, wie auf Familienfeiern. Wie meinst Du das?

“Na ja, beim Smalltalk auf der Straße tauschen wir uns nicht über Kondomgrößen aus oder fragen beim Treffen einer alten Schulfreundin, was sie aktuell so treibt, mit wem und wie und welche Verhütung benutzt wird – oder ob überhaupt verhütet wird. Warum also, wenn es um Nachwuchs geht? Warum fragen engste Verwandte, wie es denn bei uns in der Partnerschaft so läuft? Oder woran es denn liegt, warum es nicht klappt, wann es denn soweit ist und so weiter. Wieso drängt mich meine Oma zum Kinderkriegen, weil sie meint, dass das die einzige Möglichkeit sei, um glücklich zu werden? Warum begrüßt der ältere Kollege mich mit „Herzlichen Glückwunsch!“, wenn ich ein paar Kilo zugelegt habe? Weshalb sagen wir überhaupt sofort „Herzlichen Glückwunsch!“, wenn wir jemanden mit einem Babybauch sehen, ohne zu wissen, ob die Person überhaupt glücklich mit der Schwangerschaft ist?

 

Du meinst, dass Schwangerschaft eine sehr persönliche Sache ist, die aber immer wieder in die Öffentlichkeit gezerrt wird?

Ja, es ist doch so: Die Zahl der ungeplanten Schwangerschaften ist fast so hoch, wie die Zahl der geplanten – 48 Prozent, laut dem Weltbevölkerungsbericht der Vereinten Nationen. Das sind 121 Millionen ungewollte Schwangerschaften jedes Jahr. 

Da viele in dem Alter gerade in der Lehre, auf Jobsuche oder mitten auf der Karriereleiter sind oder zumindest sich in einem Jahr eher am Strand mit Wein sehen, als wickelnd auf dem Spielplatz, ist so eine plötzliche Schwangerschaft für viele sicherlich erstmal mehr Schock als pure Freude. Das haben viele gar nicht auf dem Schirm. 

Als Freunde ungeplant mit Nachwuchs rechnen mussten und damit etwas überfordert waren, sind sie für eine Beratung zur Frauenärztin. Und was sagt die? “Also ich glaube, das ist Schicksal!”. Und dann folgten noch diverse Anmerkungen und Kommentare, wie schön es doch sei, ein Kind großzuziehen. Verstehst Du? Man lässt vielen Menschen gar nicht die Wahl.“

 

Über Thema Abtreibung wird in Deutschland ja sowieso sehr ambivalent diskutiert.

So ist es. Wer mit dem Gedanken spielt, eine ungeplante Schwangerschaft nicht fortzuführen (laut Studien hauptsächlich Frauen, die bereits Kinder haben), hat es auch in Deutschland sehr schwer. Wie ich von Protagonistin und Juristin Eva aus dem Film “me time” gelernt habe, ist der Schwangerschaftsabbruch noch bis heute illegal. Festgehalten im Strafgesetzbuch im Paragraf § 218, kurz nach Mord (§ 211) und Totschlag (§ 212). 

 Nur wenige Ärzt:innen führen eine Abtreibung durch. Patientinnen werden oft dahingehend beeinflusst, die eingesetzten Samenzellen doch zu einem neuen Menschen heranwachsen zu lassen. In manchen Ländern muss vorher der Herzschlag angehört werden. Einige berichten, dass sie von Krankenpfleger:innen gedemütigt wurden und abwertende Kommentare bekamen. Als sei die Entscheidung und die Durchführung nicht schon schwer genug. Manchmal habe ich das Gefühl, dass Pro-Life-Aktivist:innen aber denken, dass Frauen eine Abtreibung so mal eben so aus dem Handgelenk schütteln. Irreführende Bildauswahl von hochschwangeren Frauen oder voll entwickelten Embryos bei Artikeln zum Thema (statt Fotos einer Beratung oder der Schwangerschaftsphasen), führen dazu, dass viele denken, es handele sich um ein Baby, statt um einen wenig entwickelten Zellverband. (Anmerkung der Redaktion: Beispiele, wie das aussieht, findet ihr unter diesem LINK und HIER)

Frau mit braunen langen Haaren und einem beigefarbenen Schallächelt in die Kamera
Dokumentarfilmerin Ayla Yildiz ©Klaus Rosen // Oben: Protagonistin Pia redet offen über Regretting Motherhood ©Screenshot aus dem Film “me time” (2022)
Frau sitzt auf einem Felsen und schaut aufs Meer
Protagonistin Gabriele @me times
Frau mit schwarz/weiß gemusterter Bluse sitzt an einem Tisch
Protagonistin Eva erklärt als Juristin Frauenverachtende Gesetze © Screenshot aus dem Film “me time” (2022)

junge Frau von der Seite in einem Park im Herbst
ProtagonistinJudith lebt kinderfrei und ist seit 3 Jahren sterilisiert©me time 2022
Du denkst, dass es wichtig ist, Schwangerschaftsabbrüche generell zu legalisieren?

Ja, es ist wichtig, dass sie legal und kontrolliert stattfinden, weil viele es trotzdem machen und hohe Risiken eingehen. Weltweit sterben daran 39.000 Frauen und das jedes Jahr. Aber es ist ja nicht nur das. Auch andere medizinische Entscheidungen werden für Frauen schwer(er) zugänglich gemacht, wie die Sterilisation, die erst ab 35 Jahren und meist nur für Mütter ermöglicht wird. Dabei gibt es viele, wie Protagonistin Judith aus dem Film, die schon im jugendlichen Alter wissen: Ich möchte nie Mutter sein und trotzdem bis kurz vor der Menopause warten (und hoffen) müssen, um eine Sterilisation zu bekommen. Denn dieser operative Eingriff wird nur von wenigen Ärzt:innen durchgeführt. Judith erzählt in “me time”, wie sie es mit 31 geschafft hat. Ihre eigene Mutter (42) wurde trotz zweier Kinder von mehreren Fachkräften abgelehnt mit der Begründung, dass sie sicher bald noch ein drittes Kind haben möchte. Da bestimmen andere einfach so über dein Leben.

Das ist ja gesellschaftlich so forciert. Wenn ich allein an die Werbung denke – da ist Mutterglück oft ein Thema.

Absolut. Aber eben nicht nur in der Werbung. So viele Filme und Serien enden mit Hochzeit und Schwangerschaft und suggerieren uns damit von klein auf, dass das unser erstrebenswertes Ziel, das Happy End sei. Oder nehmen wir die Kirche. “Diese Pflicht, ein Kind zu kriegen, ist ein Konstrukt, das sowohl Staaten als auch Religionen oder Gemeinschaften für sich als Anspruch erhoben haben, um ihr System zu stärken”, sagt zum Beispiel Protagonist Lito im Film. Nehmen wir das Kondomverbot durch die katholische Kirche oder die Drohung, in die Hölle zu kommen, wenn keine Kinder in die Welt gesetzt werden, wie beim griechisch-orthodoxem Glauben. Der  Papst sagte, verheiratete Paare sollten daran denken, Kinder statt Haustiere zu bekommen und das türkische Staatsoberhaupt Erdogan hielt eine Rede vor dutzenden Frauen, um ihnen mitzuteilen, dass jede, die sich der Mutterschaft verweigert (oder den Haushalt vernachlässigt), nur eine halbe Frau sei.

Mann sitzt auf einer Steinmauer und schaut auf das Wasser. Man sieht ihn von hinten
Protagonist Lito erwähnt unter anderem Überbevölkerung und Adoption Credit: Screenshot aus dem Film “me time” (2022)
Das ist komplett absurd und wird niemandem gerecht. Wir sind doch einfach auch unterschiedlich – es gibt Frauen/Paare, die wollen unbedingt Kinder und andere eben keine. Aber das scheint auf bestimmten Ebenen nicht anzukommen.

Das stimmt. Es ist einfach so drin, dieses: “Schule, heiraten, Kinder kriegen”, ohne dass hinterfragt wird, ob die psychologische oder finanzielle Verfassung vorhanden ist. Ich meine, wer Kinder bekommt, der übernimmt eine große Verantwortung. Der verpflichtet sich, für mindestens 18 Jahre einen Menschen großzuziehen und die eigenen Bedürfnisse hinten anzustellen. Wenn die innere Bereitschaft dafür fehlt, hat das Konsequenzen nicht nur für die Eltern, die überfordert und Burnout-gefährdet sind, sondern auch für die Kinder.

Frau liegt auf dem Boden und balanciert über ihr ein Kind auf Füßen und Händen
Protagonistin Daniela @met time 2022
Was meinst du, was wird gebraucht, damit wir auf dieser Ebene selbstbestimmter handeln können?

Bildung, Gleichberechtigung, kostenfreie Beratung für alle Seiten, keine/weniger Reglementierungen für Schwangerschaftsabbrüche, Sterilisation und Adoption sowie facettenreiche Vorbilder in Filmen und Serien. Einen Anfang macht “me time” und hilft, sich Klarheit über diese Themen zu verschaffen und keine:n mit seinen Gefühlen und Gedanken alleine zu lassen. Protagonistin Pia erzählt in meiner Doku von Regretting Motherhood. Sie nannte eine WDR-Umfrage, bei der Männer gefragt wurden, was sich für sie seit der Geburt des ersten Kindes verändert hat. Die Befragten erwähnten mit ein Prozent: “beruflicher Erfolg”, für zwei Prozent änderte sich “Schlaf/Ruhe/Rhythmus”, drei Prozent gaben an, weniger Zeit für sich zu haben (#metime), aber ganze 70 Prozent antworteten: “Nichts”.

Für Frauen ändert sich doch aber komplett alles. Ich selbst merke jetzt, da zwei meiner Kinder aus dem Haus sind, und die Jüngere auch schon sehr selbstständig ist, wie viel mehr Freiräume ich plötzlich habe.

Ja. Schön wäre es, wenn es nicht so viele Strukturen und Gesetze gebe, die den Tatbestand begünstigen, dass Frauen einen Großteil der Kindererziehung, Pflege und Care-Arbeit übernehmen (müssen) oder sich dahin gedrängt fühlen. Zum Beispiel Wickelmöglichkeiten auf männlichen Toiletten. Welchen Wert Hausfrauen mit Wäsche machen, spülen, kochen und Kinderbetreuung leisten, versteht sich erst, wenn jede Aufgabe an eine Haushaltskraft delegiert wird. In Österreich leisteten Frauen “Care-Arbeit im Wert von 108 Mrd. Euro, das würde rund 27 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung entsprechen”.

Und “me time” thematisiert das?

Unter anderem wird auch das idealisierte Mutterbild kritisiert, genau. Die sechs Protagonist:innen erzählen ihre persönlichen Erfahrungen von Schwangerschaftsabbruch, Sterilisation und Adoption. Von ungeplanter Schwangerschaft zur glücklichen Mutter und umgekehrt vom gewollten Kind zu Regretting Motherhood. Offen, ehrlich und humorvoll wird über Tabu-Themen gesprochen, werden provokative Fragen beantwortet und politische Gesetze hinterfragt, um unsere Denkmuster über das Kinderkriegen zu reflektieren.

Vielen Dank, liebe Ayla.

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Die mehrfach preisgekrönte Dokumentarfilmerin Ayla Yildiz ist ausgebildete Mediengestalterin Bild/Ton sowie Bild- und Multimedia-Redakteurin und spezialisiert sich auf gesellschaftskritische und politische Kurzfilme. Seit 2010 ist die Einzelunternehmerin freiberuflich für verschiedenste Produktionen tätig und übernimmt jeden Schritt des Filmemachens: die Konzeption, Regie, Kamera und Postproduktion. In ihrem Umfeld ist sie als "One-Woman-Show" bekannt.  Auftraggeber sind u.A. die Funke Mediengruppe und der WDR. Inspirierende Filme zu erschaffen, die das Publikum zum Nachdenken anregen und Tabu-Themen Raum zu geben, ist ihre große Leidenschaft.

Foto: ©Klaus Rosen

Jeannette Hagen arbeitet als freie Autorin und Kolumnistin in den Schwerpunkten Gesellschaft, Psychologie, Politik und Kunst für verschiedene Medien und Verlage. Neben dieser Arbeit und dem Studium der Politikwissenschaft an der FU Berlin setzt sie sich aktiv für Menschenrechte ein.

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