Spitzhörnchen

Vom Spitzhörnchen und seiner Vergangenheit

Auf den Spuren von Naturkunde und Kolonialismus

Was kann ein wissenschaftlicher Name über koloniale Geschichte verraten? Was haben Naturkundemuseen eigentlich so im Keller? Und was hat Naturkunde überhaupt mit der Kolonialzeit zu tun? Das Nikobaren-Spitzhörnchen nimmt uns mit auf eine Spurensuche in seine Vergangenheit.

Ich stehe vor der sogenannten Biodiversitätswand des Berliner Naturkundemuseums. Das Museum für Naturkunde Berlin ist überwiegend bekannt für seinen Dinosauriersaal mit dem Giraffatitan brancai namens Oskar, der gleich am Eingang mit seinem knöchernen Grinsen auf die Besuchenden hinabschaut. Geht man allerdings weiter, führt die Ausstellung links zu einem Raum namens Evolution in Aktion. In diesem Raum befindet sich ein weiteres Aushängeschild des Museums: die Biodiversitätswand. Dargestellt und angeordnet sind mehrere hundert präparierte Tiere, drapiert vor einer blauen Wand in einer historischen Vitrine aus den 1880er Jahren. Der Raum ist spärlich ausgeleuchtet und einzelne Tiere scheinen die Besuchenden mit ihren Augen zu verfolgen. So verfolgt mich auch der Blick eines kleinen Tierchens mit runden Ohren etwa mittig in der Wand.

Das Spitzhörnchen oder Tupaia in der Biodiversitätswand des Museums für Naturkunde Berlin, ©Frauke Dornberg

Was fehlt dieser Wand?

Um mehr über die dargestellten Tiere herausfinden zu können, gilt es, eine Tafel mit den dort angebrachten Lupen im Raum zu entziffern. Laut dieser Tafel heißt mein Verfolger Spitzhörnchen oder Tupaia. Dennoch fehlt mir weiterer Kontext zu diesem Tier: Wo ist es zu finden? Wie lautet seine wissenschaftliche (auch: taxonomische) Bezeichnung? Taxonomische Namen sind Teil einer Disziplin der Biologie, die Lebewesen klassifiziert und einordnet. Die Kategorien, in die eingeordnet werden kann, heißen auch Taxa (Singular: Taxon, aus dem Altgriechischen „Ordnung“ oder „anordnen“, *1). Die aktuell gängigen Taxa der Biologie lauten: Reich, Stamm, Klasse, Ordnung, Familie, Gattung und Art. Ein taxonomischer Name besteht aus Gattung und Art, gefolgt vom Namen der Autor:in mit einer Jahreszahl.

Die taxonomische Bezeichnung meines kleinen Verfolgers mit den runden Ohren lautet vollständig: Tupaia nicobarica (Zelebor, 1869). Der Name in Klammern ist der Name der Person, die dieses Tierchen zuerst wissenschaftlich beschrieben und veröffentlicht hat. Zelebor gilt also als Autor. Auf Spurensuche dieses Autors zu gehen, heißt auch, Spuren des Kolonialismus zu folgen. Wer war Zelebor und wie kam er 1869 dazu, dieses Spitzhörnchens zu beschreiben? Noch dazu ein Spitzhörnchen, das seinen Lebensraum hunderte Kilometer weit weg auf einer Inselgruppe im Indischen Ozean hat?

Johann Zelebor war ein österreichischer Naturforscher, der von 1819 bis 1869 lebte. Als Assistent des Zoologischen Naturalien-Hofkabinetts, einer frühen Form des Naturkundemuseums, begleitete er die österreichische Expedition des Schiffs SMS Novara, die auch die Nikobaren-Inseln im Indischen Ozean erreichte und von der österreichischen Marine durchgeführt wurde (*2). Nach seiner Rückkehr wurde er Kustode, also Sammlungsbetreuer, der Säugetierabteilung am Zoologischen Naturalien-Hofkabinett in Wien (Quelle 2).

Die Geschichte des Spitzhörnchens

Die Beschreibung und Veröffentlichung des kleinen Nikobaren-Spitzhörnchens erfolgten also erstmals im Jahr 1869. Was können wir dadurch über den historischen, aber auch politischen Kontext dieser Artbeschreibung erfahren? Ich frage nach diesem Kontext, um herauszufinden, welche Informationen eine taxonomische Bezeichnung enthalten und auf welche sozialen Beziehungen sie hinweisen kann: Handelt es sich hierbei um koloniale Beziehungen? In erster Linie gibt die Jahreszahl Aufschluss darüber, welche taxonomischen Standards und welcher theoretische Rahmen zu der angegebenen Zeit vorherrschten. Für meine Recherche interviewe ich Professor Michael Ohl. Er ist wissenschaftlicher Leiter der Sammlung der Hymenoptera, also der Wespen, Bienen und Ameisen, am Museum für Naturkunde in Berlin. Er erzählt mir unter anderem von Carl von Linné, dem Naturwissenschaftler, der im 18. Jahrhundert ein System zur taxonomischen Klassifizierung von Lebewesen begann, das bis heute relevant ist. „Auch Linné im Jahr 1758 und dann die späteren Arbeiten von ihm sind eingebettet in ein statisches Naturbild, in das Bild eines göttlichen Ursprungs der Artenvielfalt. Während im 21. Jahrhundert, wo dann in der Regel auch genetische Informationen bei der Artentdeckung eine Rolle spielen, doch ein Verständnis von Natur dahintersteht, was eingebettet ist in eine dynamische Evolutionstheorie“ (aus dem Interview mit Michael Ohl, Februar 2022, Quelle 6). Die Benennung einer Art steht folglich im Zusammenhang mit der zu der Zeit vorherrschenden Vorstellung von Natur, damals also als von göttlichem Ursprung angesehen, heute als Resultat der Evolution.

Blick auf den Schreibtisch im Büro des Wissenschaftlers Michael Ohl mit einem Schaukasten mit klassifizierten Grabwespen ©Frauke Dornberg

Darüber hinaus lassen sich durch die Verknüpfung von Autor:innennamen und Jahreszahl historische Gegebenheiten recherchieren. So handelte es sich bei der Inselgruppe der Nikobaren im Indischen Ozean Mitte des 18. Jahrhunderts um ein Gebiet, das sowohl seitens der dänischen Krone als auch von österreichischer Seite kolonialisiert werden sollte. Teil dieser Versuche auf österreichischer Seite war die Expedition des Schiffs SMS Novara mit Johann Zelebor an Bord (*3). Die Versuche einer dänischen oder österreichischen Ansiedlung auf den Nikobaren endeten im Jahr 1869 mit dem Verkauf der Inseln von der Danish East India Company an Großbritannien (*4). Es ist dasselbe Jahr, in dem Johann Zelebor das Nikobaren-Spitzhörnchen beschreibt und als neue Art veröffentlicht.

Naturkunde und Kolonialismus?

Einige Wissenschaftler:innen, meist Historiker:innen, beschäftigen sich heute mit dem Zusammenhang von Naturkunde und Kolonialismus. Hier geht es um gesammelte Pflanzen, Tiere und Mineralien, aber eben auch um taxonomische Bezeichnungen und spezifisches Wissen aus und über bestimmte Regionen der Welt. Viele Objekte, Fachwissen und präparierte Tiere befinden sich in europäischen Museen, ohne dass immer vollständig bekannt ist, wie sie dorthin gekommen sind. In Berlin beschäftigen sich vor allem die Mitarbeitenden der kulturwissenschaftlichen Abteilung Humanities of Nature mit dem Hintergrund der Sammlung, beispielsweise aktuell mit der Geschichte der Säugetiersammlung am Museum. In der Vergangenheit erhielten zoologische Museen durch Expeditionen, die sie in die Welt unternahmen, einen Mehrwert an Wissen und Expertise über diese bestimmte Region. Damit verbunden war ebenfalls ein Herrschaftsanspruch über eben diesen Ort gegenüber ähnlichen Bestrebungen durch andere (*5). Es handelte sich sozusagen um ihr Fach- und damit Hoheitsgebiet. Auffällig ist außerdem, dass viele naturwissenschaftliche Objekte und auch Tiere in Naturkundemuseen aus den spezifischen Gebieten stammen, die kolonialisiert wurden. So besteht auch dadurch mehr Fachwissen über die Natur dieses Gebiets.

Auch wenn die österreichische Expedition der SMS Novara nicht durch ein zoologisches Museum organisiert war, wirkt die Veröffentlichung des Artnamens der Tupaia nicobarica im selben Jahr wie die britische Machtübernahme auf den Nikobaren in diesem Kontext wie ein Affront von österreichischer Seite, da der österreichische Naturforscher Johann Zelebor ein für diese Region spezifisches Tier benennt. Ich habe zum Zeitpunkt meiner Recherche keinen Einblick in historische Quellen, die belegen, dass die Publizierung dieses Artnamens auch als Affront gedacht oder von Großbritannien als solcher verstanden wurde. Weitere Konflikte zwischen Österreich und Großbritannien über koloniale Ansprüche – wie zum Beispiel auf den Salomonen Inseln in 1895-96 – lassen sich allerdings finden (*3). Informationen über die nikobarische Perspektive auf die Geschehnisse im 19. Jahrhundert und das Spitzhörnchen liegen mir nicht vor. Die Nikobaren-Inseln gehören seit dem Jahr 1950 übrigens zu Indien. Es lässt sich nicht leugnen, dass die Benennung des Spitzhörnchens nach den Nikobaren-Inseln in einem Spannungsfeld verschiedener Mächte stattgefunden hat und diese Bezeichnung dadurch mit Bedeutung aufgeladen ist.

Dieses Beispiel des Nikobaren-Spitzhörnchens zeigt, dass ein kleines Tier mit runden Ohren hinter einer Glasscheibe in einem Naturkundemuseum mit ein wenig Recherche Auskunft über einen historischen Kontext geben kann. Es zeigt außerdem, dass der Name der Autor:in, ebenso wie die taxonomische Bezeichnung des Tiers Aufschluss über einen politischen Kontext gibt. Die Benennung des Tiers nach einem Ort kann darüber hinaus als Machtdemonstration verstanden werden. Namen sind nicht neutral. Auch wissenschaftliche Bezeichnungen von niedlichen Tieren mit runden Öhrchen sind es nicht.

Lagerregale im Sammlungsraum für Flohkrebse im Museum für Naturkunde Berlin

Aber wie ist es heute? 

Das Nikobaren-Spitzhörnchen hat nun etwas über seinen Autor erzählt und dieser lässt sich in ein politisches Spannungsfeld einordnen. Manche mögen argumentieren, dass die Zeiten der Kolonien längst vorbei seien und die Benennung heute in einem deutschen Naturkundemuseum auch als weniger politisch einzuordnen sei. Der heutige politische Kontext taxonomischer Benennung ist sicherlich ein anderer als im 19. Jahrhundert. Allerdings demonstriert das Beispiel von Zelebor und seinem Spitzhörnchen, dass die Nennung einer Person als Autor:in des taxonomischen Namens eine Bedeutung mit einschließt. Dabei kann es sich um unterschiedliche Bedeutungsebenen handeln: um ein bestimmtes Naturverständnis, um politisches Zeitgeschehen, aber auch um die Umstände oder die sozialen Beziehungen, die die Benennung der Art beeinflussen. Das kleine Tier in der Vitrine vor mir und seine wissenschaftliche Bezeichnung kann mir also etwas über koloniale Geschichte, über Natur und über seinen Autor erzählen. Es repräsentiert damit viel mehr als nur seine Artgenossen, die Spitzhörnchen. Als ich mich umdrehe, scheint es mir zuzuzwinkern.

Werde Demokratie-Verfechter:in
fürs DEMOS MAG

Du willst das DEMOS MAG unterstützen, weil guter, diverser Journalismus Dir am Herzen liegt und Du auch denkst, dass Demokratie keine Selbstläuferin ist? Dann spende einmalig mit einer eSpende oder werde Abonnent:in auf Steady.
Fördere mit uns den gesellschaftlichen Diskurs und gib mit Deiner Spende den im Mainstream unterrepräsentierten Stimmen mehr Gewicht.

Jetzt Abonnieren

Frauke Dornberg ist Veranstaltungskauffrau und studierte zusätzlich Europäische Ethnologie und Ethnografie in Berlin.

ZUM TEILEN